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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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her.
    Ben wartet unten. »Kann ich Ihnen jetzt das Bier holen, das ich Ihnen
vor drei Jahren nicht bringen durfte?«, fragt er.
    Sydney lacht.
    Sydney, Julie und Ben setzen sich mit ihren Bierflaschen ins umgeräumte
Wohnzimmer. In der Küche macht Mrs. Edwards das Abendessen. Sydney riecht die Schweinekoteletts.
    Irgendwann vorher hat Ben gesagt: Es ist schwer, das
Leben aus einem Haus zu räumen . Es wandert in schwarze Müllsäcke und Kartons,
denkt Sydney, während sie sich in dem Zimmer umsieht, das ihr einmal so vertraut
gewesen ist. Es wandert zur Heilsarmee und auf die Müllkippe. Es wandert an neue
Wände und in neue Räume, vielleicht in eine Eigentumswohnung in Boston oder ein
Apartment in Montreal. Wird ein Bild oder ein kleines Möbelstück in dem braungelben
Cottage auf Frederick’s Island landen? Wo werden die weißen Sofas enden? Und der
lange Esstisch, an dem die Familie so oft gegessen hat? Wird Mrs. Edwards ihre
Schnäppchen vom Flohmarkt behalten?
    »Nach dem Essen mache ich die Fenster fertig«, sagt Ben zu Julie. »Obwohl
mir schleierhaft ist, was das bringen soll. Bis Donnerstag sind sie ja doch wieder
voller Salz.«
    »Ich bin mit meinem Zimmer fast fertig.«
    »Ich fange dann auch gleich mit dem Keller an«, fügt er hinzu.
    »Da wünsche ich dir viel Glück«, sagt Julie. »Ich hasse alle Keller«,
erklärt sie Sydney. »Ich gehe fast nie da hinunter.«
    Sydney würde gern helfen, aber so ein Angebot würde die Vermutung nahelegen,
dass sie über Nacht bleiben will. Trotzdem hält sie es kaum aus, nichts zu tun.
Sie hat einmal in diesem Haus gelebt, denkt sie, da sollte sie auch ihren Teil zu
seiner Entrümpelung beisteuern.
    Sie wird das Geschirr spülen, beschließt sie. Das ist das Mindeste.
    Ben hat ein weißes T-Shirt angezogen und darüber einen schwarzen Pullover.
Sein Gesicht ist unrasiert und gerötet, das Haar mit den Fingern hinter die Ohren
gestrichen. Vielleicht hat er seine Haarbürste vergessen. Er hat Khakishorts an,
die er in einer Schublade des ehemaligen Jungszimmers gefunden haben könnte. Sydney
fragt sich, ob ihr altes Zimmer schon ausgeräumt, ob die kobaltblaue Flasche jetzt
fort ist. Wer hätte sie schon haben wollen? Ist sie in einem der Müllsäcke, die
für Goodwill bestimmt sind?
    »Sydney kommt nach Montreal zu meiner Ausstellung«, berichtet Julie ihrem
Bruder, der sein Bier ausgetrunken hat und, das sieht Sydney ihm an, überlegt, ob
er aufstehen und sich noch eines holen soll. Wenn er ihr ein zweites anbietet, wird
sie annehmen. Es kann noch Stunden dauern, ehe sie die Rückfahrt nach Boston antritt.
Dass sie die gefährliche Schwimmstrecke zum Boot heil überstanden hat, hat sie leichtsinnig
gemacht.
    »Prima«, sagt er. »Und wann ist das?«
    »Im Januar«, antwortet Julie.
    »Okay, dann komme ich auch«, sagt er. Sydney bemerkt, dass er es vermeidet,
in ihre Richtung zu sehen.
    »Echt?«, fragt Julie aufgeregt. »Hélène hat gesagt, dass es bestimmt
eine Party gibt.«
    Das Abendessen besteht aus Schweinekoteletts, Beutelreis und Salat mit
Marinade aus der Flasche. Es erinnert Sydney an Mahlzeiten in Troy: einfach, lieblos
und ohne Geschmack. Die Koteletts sind so lange gebraten, dass Sydney sie selbst
mit einem Sägemesser kaum durchschneiden kann. Sie essen am Küchentisch, mit Plastikmatten
unter den Tellern. Sydney kann sich des seltsamen Gefühls nicht erwehren, sie seien
eine gewöhnliche Familie, die sich nach einem normalen Arbeitstag zum Abendessen
zusammengefunden hat. Mutter, Sohn, Tochter. Und Sydneys Rolle? Alte Freundin der
Familie? Entfernte Bekannte der Familie? Ehemalige Angestellte, die beinahe den
zweiten Sohn geheiratet hätte?
    Mrs. Edwards kaut langsam, als hätte sie kein Verlangen nach dem Essen,
das sie eben zubereitet hat. Vielleicht findet sie jetzt am ganzen Leben keinen
Geschmack mehr. Sydney erinnert sich an ähnliche Gefühle nach Daniels Tod und nach
Jeffs Eröffnung, dass er sie nicht heiraten würde: Es ist, als hätte die Welt alle
ihre sensorischen Eigenschaften verloren oder als hätte man die Fähigkeit eingebüßt,
sie wahrzunehmen. Sie hätte gern mit der Frau darüber gesprochen, aber sie kann
sich den geringschätzigen Blick von ihr vorstellen, wenn sie es täte. Das Gesicht
der Frau ist rot und fleckig. Der Schmerz hat ihr mehr Farbe gegeben.
    Julie, die ihr gegenübersitzt, wirkt gedämpft. Dies ist vielleicht das
letzte Abendessen, das sie in diesem Haus einnehmen wird. Sie hat noch nicht gesagt,
wann sie nach
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