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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Montreal zurückfahren will. Der Tod von Mr. Edwards muss sie besonders
hart getroffen haben, sie ist zu jung, um ihren Vater zu verlieren. Und war es nicht
vielleicht für Mr. Edwards ebenso schmerzlich gewesen? Das Kind, das er offensichtlich
am meisten geliebt hatte, in so zartem Alter zurücklassen zu müssen? War er womöglich
froh darüber gewesen, dass Julie Hélène hat? Dachten Sterbende über solche Dinge
nach? Oder löste man sich mehr und mehr von dieser Welt, wenn man im Begriff war,
in eine andere einzutreten?
    Ben ist schnell fertig mit dem Essen. Sydney bemerkt, dass er beim dritten
Bier ist und das ziemlich flott hinunterkippt.
    Der Mann hat seinen Vater und seinen Bruder verloren, seine Mutter an
ihren Schmerz. Seine Schwester wird weiter in einem anderen Land leben. Er schiebt
seinen Stuhl zurück und dreht sich so, dass er ins Wohnzimmer blickt. Er stützt
einen Ellbogen auf den Küchentisch.
    Wieder lässt Sydney ihren Blick um den Tisch wandern: Mrs. Edwards ist
immer noch mit ihrem Kotelett beschäftigt; Julie trinkt ihr Bier aus; Ben, offensichtlich
müde, nimmt einen tiefen Zug. Es ist, denkt sie, als wäre die Familie in einen Brandungsrückstrom
geraten und würde ins Meer hinausgetragen, während jeder von ihnen seitwärts zu
schwimmen versucht, parallel zur Küste.
    Als Sydney den letzten Topf gereinigt hat, macht sie den Herd sauber.
Sie wischt die Herdplatte, nimmt die Gasringe heraus, weicht sie im Spülbecken ein
und holt die Krümel aus den Ritzen zwischen dem Herd und der Granitplatte. Sie macht
die Klappe des Backofens auf und denkt kurz daran, auch diesen in Angriff zu nehmen.
Aber dann müsste sie nach einem Backofenreiniger fragen, worauf Ben oder Julie zweifellos
sagen würden: Nein, das nicht, das ist viel zu viel Arbeit .
Mrs. Edwards würde wahrscheinlich überhaupt nichts sagen.
    Sydney beschließt, stattdessen den Kühlschrank sauber zu machen. Sie
wischt den ganzen Innenraum aus, spült die Borde und die Körbe unter lauwarmem Wasser.
Sie wirft Nahrungsmittel weg, bei denen sie sicher davon ausgehen kann, dass kein
Mensch sie mehr haben will: faulige Zwiebeln in einem Netz; grünen Salat, der schon
ganz schlierig ist; ein Glas Tapenade mit einer blühenden Schimmelschicht. Die anderen
Sachen, selbst wenn es nur kleine Reste sind, räumt sie wieder genauso ein, wie
sie sie vorgefunden hat. Mrs. Edwards wird vielleicht der Meinung sein, für den
Kühlschrank sei Sydney nicht zuständig, sie habe ihre Grenzen überschritten.
    Der Tiefkühlschrank ist mit undefinierbaren Dingen in Plastikbeuteln
gefüllt. Über allen liegt eine pelzige Reifdecke. Sydney klappt die Tür wieder zu.
    Als Sydney mit dem Kühlschrank fertig ist, nimmt sie sich die Küchenschränke
vor. Ganz eindeutig nicht ihr Zuständigkeitsgebiet, aber sie findet, dass sie, auch
wenn sie die Fahrt nach Boston noch vor sich hat, die Arbeit erst niederlegen kann,
wenn die anderen es auch tun. Vielleicht gibt es am Ende des Abends eine kleine
Feier mit dem Dreibeerenkuchen, den Sydney vorher im Kuchenkasten bemerkt hat.
    Sie nimmt jedes einzelne Stück aus dem ersten Schrank, alles zweite Garnitur:
Müslischüsseln, türkisblaue Schalen, die nur ein Gastgeschenk gewesen sein können,
kleine Saftgläser mit knallroten Kirschen auf dem Glas, Plastikschüsseln für den
Fall, dass man auf der Veranda kein Porzellan benutzen wollte. Nicht ein einziges
Mal während ihres Aufenthalts in diesem Haus hat irgendjemand aus einer Plastikschüssel
gegessen.
    Mrs. Edwards geht durch die Küche, ohne eine Bemerkung zu machen. Sydney
ist leicht erstaunt, dass sie nicht einmal stehen bleibt und zuschaut, was sie tut.
Noch zweimal geht sie schweigend vorüber, während Sydney auf der Arbeitsplatte kniet
und mit einem Schwamm die hintersten Tiefen eines Hängeschranks reinigt. Es ist,
als hätte die Frau das Sprechen verlernt.
    Als Mrs. Edwards das vierte Mal in die Küche kommt, springt Sydney von
der Arbeitsplatte herunter. Mrs. Edwards seufzt und geht die Treppe in den ersten
Stock hinauf. Sydney horcht auf ihre Schritte. Sie ist auf dem Weg in ihr Schlafzimmer.
    Sydney hört Ben im Keller rumoren, er scheint irgendwelche schweren Gegenstände
über den Boden zu schleifen. Julie ist vermutlich zu Bett gegangen. Mit einem Glas
Wasser aus der Leitung setzt sie sich an den Küchentisch. Ihre Anwesenheit hier
ist überflüssig, sie hat hier nichts zu suchen. Es wird Zeit, dass sie abfährt.
Flüchtig überlegt sie, wo ihr Aktenkoffer
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