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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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mit dem Schlüssel ist, den sie vorher
aus ihrer Tasche genommen hat. Vielleicht sind ihre Sachen jetzt trocken. Gleich
wird sie sie holen, sich schnell anziehen und dann zu Ben gehen, damit der sie zu
ihrem Wagen auf dem öffentlichen Parkplatz bringen kann. Danach wird sie Richtung
Süden fahren.
    Aber zuerst muss sie noch etwas erledigen.
    Sydney tritt in ihr ehemaliges Zimmer und schließt die Tür. Die Betten
sind abgezogen, die Kommode und der Nachttisch abgeräumt. Sogar die Nachttischlampe
ist weg. Sydney setzt sich auf die nackte Matratze und wartet, bis ihre Augen sich
an die Beleuchtung im Zimmer gewöhnt haben.
    Keine kobaltblaue Flasche mit einer Feder darin steht auf dem Fensterbrett,
kein rot emaillierter Stuhl an der Wand. Sie fragt sich, wer hier geschlafen hat,
nachdem sie das Zimmer vor zwei Jahren geräumt hatte, und wann es im Hinblick auf
die Übergabe endgültig ausgeräumt worden ist. Sie sieht Jeff wieder am Fenster stehen.
Sie hat damals gedacht, er würde vielleicht weinen.
    Sie weiß, dass ihr Entschluss, sich von Andrew zu trennen, einfach eine
schmerzhafte Entscheidung war, die sie treffen musste. Daniels Tod war Zeugnis eines
grausamen und launischen Schicksals. Jeffs Handeln jedoch wird ihr vielleicht immer
rätselhaft bleiben. War es eine Äußerung der dunklen Seite menschlichen Seins, Indiz
für einen verheerenden Narzissmus und einen unglaublichen Mangel an Einfühlungsvermögen?
Hatte er das Ganze nur als eine sportliche Herausforderung gesehen? War es ihm um
den Sieg gegangen? Oder hatte er, in eine Rivalität verstrickt, die entstanden war,
bevor er es überhaupt merkte, nicht anders gekonnt? Jeff war selbstsüchtig, zweifellos,
und vielleicht auf Konkurrenz programmiert. Aber war er deshalb böse? Oder war er
bloß ein Mensch mit völlig menschlichen Fehlern und Schwächen?
    Was ich getan habe, war unbesonnen , hat Jeff
an dem Abend, an dem Julie verschwunden war, im Zimmer seiner Schwester zu ihr gesagt. Vielleicht sogar fahrlässig.
    Sydney steht auf. Noch einmal sieht sie sich im Zimmer um und versucht
sich zu erinnern, wie sie war, bevor es einen Jeff, einen Ben, einen Mr. Edwards
und eine Julie gab. Sie kann nur ganz schwache Bilder erkennen, kaum greifbar: eine
junge Frau, neunundzwanzig, die in den Tag hineinlebt, in der Schwebe zwischen einem
Leben, vom dem sie sich zu erholen sucht, und einem Leben, das sie sich zu jener
Zeit noch nicht vorstellen konnte. Die Bilder verblassen, noch während Sydney sie
betrachtet. Das Zimmer wird sehr dunkel, und sie schließt die Tür hinter sich.
    Als sie sich herumdreht, sieht sie Mrs. Edwards im oberen Flur stehen.
Sie hält einen Karton in den Armen. »Hast du dich verirrt?«, fragt sie.
    Interessante Frage, denkt Sydney.
    »Mark wollte, dass du das bekommst«, sagt die Frau. Sie hält Sydney den
Karton hin. Sein Gewicht überrascht Sydney. Auf dem Deckel steht mit schwarzem Filzstift
geschrieben: Dieser Karton ist für Sydney Sklar.
    »Danke«, sagt Sydney zu der Frau, die sich das kurze Haar aus der Stirn
streicht.
    »Du wirst sicher nicht mehr lange hier sein«, sagt Mrs. Edwards.
    »Nein, ich wollte gerade fahren.«
    »Tja…« Mrs. Edwards scheint nichts einzufallen. Sie hebt die Hand und
winkt. »Gute Reise«, sagt sie – eine Frau, die eine Bekannte auf dem Weg in ein
fernes Land verabschiedet.
    Sydney trägt den Karton ins Esszimmer, wo wenig Licht ist, aber die Wahrscheinlichkeit,
dass jemand kommt und sie stört, am geringsten. Sie holt einmal tief Atem, nimmt
ihren Mut zusammen und öffnet den Karton.
    Dutzende brauner Hefter nebeneinander aufgereiht. Auf einem erkennt Sydney
den Namen Beecher und weiß sofort, was der Karton enthält.
Mr. Edwards hat ihr die Geschichte des Hauses geschenkt.
    Sie klappt den Karton über den Heften zu, als wollte sie diese schützen.
In dem Bewusstsein, dass er bald sterben würde, hat der Mann seine Akten in diesen
Karton gesteckt und ihn mit ihrem Namen versehen, der Gedanke zerreißt ihr beinahe
das Herz. Wusste er, dass seine Frau das Haus verkaufen würde? Glaubte er, dass
jemand es kaufen und abreißen und seine Geschichte zerstören würde? Meinte er, unter
ihnen allen wäre Sydney die Verwalterin mit dem meisten Verständnis?
    Sie weint, bis alles heraus ist: die Sehnsucht nach der Familie, der
Schmerz um Mr. Edwards, der Zorn auf Jeff. Sie weint, bis sie Schluckauf bekommt
und dann Kopfschmerzen.
    Sydney holt ihre Sachen vom Wäscheständer und zieht sie gleich da an,
wo sie
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