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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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steht. Sie faltet den Jogginganzug aus dunkelblauem Velours säuberlich zu
einem kleinen Bündel. Durch die vorderen Fenster kann sie Ben erkennen, der auf
der Veranda sitzt. Mit dem Karton unter dem Arm öffnet sie die Tür.
    »Hey«, sagt er. »Ich habe mich schon gefragt, wo Sie geblieben sind.«
    »Ich fahre jetzt. Könnten Sie mich zu meinem Wagen bringen?«
    »Was ist das?« Er deutet auf den Karton.
    »Das ist…« Sydney öffnet den Mund, aber sie kann ihm nicht antworten.
Ben ist klug genug, sie nicht zu drängen. Vielleicht merkt er ihr an, dass es ihr
nicht gut geht.
    »Setzen Sie sich einen Moment«, sagt er.
    Sydney stellt den Karton auf einen Teakstuhl und setzt sich zu Ben auf
die oberste Treppenstufe. Die Luft ist warm, beinahe tropisch. Sydney muss sich
ins Gedächtnis rufen, dass es Mitte September in New Hampshire ist.
    »Sind Ihre Sachen trocken?«, fragt er.
    »Ein bisschen feucht noch.«
    »Möchten Sie ein Bier?«
    »Ich muss fahren.«
    »Eine Tasse Kaffee?«
    »Nein danke.«
    Hinlegen würde sie sich gern. Sie wünschte, sie hätte einen Vorwand,
heute Nacht im Haus zu schlafen und morgen in aller Frühe zu verschwinden. Aber
das wird sie nicht tun. »Heute Abend riecht man das Meer«, sagt sie.
    »Ostwind.«
    »Schön«, sagt sie. »Was haben Sie jetzt vor?«
    »Ich denke, ich werde am Cottage arbeiten, bis es zu kalt wird. Es hat
einen offenen Kamin, aber die Wände sind nicht isoliert. Dann gehe ich zurück in
die Stadt und pendle hin und her, wann immer ein paar Tage gutes Wetter angesagt
sind. Ab November ist das Haus nicht mehr bewohnbar. Dann wird mir nichts anderes
übrig bleiben, als über den Rest meines Lebens nachzudenken.«
    Eine unbekümmerte Bemerkung, die nach Risiko und Draufgängertum schmeckt.
Aber, vermutet Sydney, Ben hat sicher diesen oder jenen Plan in der Hinterhand.
Sie bezweifelt, dass er ganz aussteigen wird. Muss er sich denn nicht seinen Lebensunterhalt
verdienen?
    »Und Sie fahren zu Julies Ausstellung?«, fragt er.
    »Ja, ganz bestimmt.«
    Eine Möwe landet dreist auf dem Plankenweg. Als fühlte sie sich zurückgewiesen,
dreht sie sich herum und wendet ihnen den Schwanz zu.
    »Sie haben mich nie gemocht«, sagt Ben plötzlich. »Gleich von Anfang
an habe ich eine beinahe körperliche Abneigung bei Ihnen gespürt. Ich habe bis heute
nicht verstanden, woher sie kommt.«
    Sydney ist sprachlos angesichts seiner Direktheit. Ihr wird heiß. Wie
soll sie ihm antworten? Erinnert er sich denn nicht?
    »Ben«, sagt sie und wünscht, er hätte geschwiegen. Der Tag hat, wenn
er auch bisweilen traurig war, kaum Spannungen zwischen ihnen gebracht.
    »Da war doch etwas, stimmt’s?«, fragt er. »Ich habe es genau gespürt.«
    »Das ist…«
    »Liegt es an meiner Person? An meiner Art?«
    »Lassen Sie es doch einfach ruhen.«
    »Also war da etwas.«
    »Ach, Ben«, sagt sie, »es war an dem Abend damals.«
    Ben kneift stirnrunzelnd die Augen zusammen. »An welchem Abend?«
    »An dem Abend, als wir Surfen waren.«
    Im Licht, das aus den Fenstern fällt, kann sie erkennen, dass er versucht,
sich zu erinnern. Sie sucht in seinem Gesicht nach einem Zeichen von Verstellung.
Er schüttelt den Kopf, den Blick immer noch auf sie gerichtet. Es ist, als wollte
er die Antwort in ihren Augen lesen. »Tut mir leid«, sagt er. »An dem Abend, als
wir Surfen waren?«
    »Ja.«
    »Habe ich eine unverschämte Bemerkung gemacht? Wenn ja –«
    »Nein.«
    Er scheint völlig verblüfft. Vielleicht weiß er es wirklich nicht, denkt
sie. Vielleicht spielt er nicht Theater. »Die Hand?«, deutet sie vorsichtig an.
    Ben neigt den Kopf zur Seite – fragend.
    »Im Wasser?«
    In ihrer Verlegenheit ist sie unfähig, sich klar auszudrücken. Sie muss
das hinter sich bringen. »Als sie unter mich getaucht sind und mich angefasst haben«,
sagt sie hastig.
    Ben starrt sie an. »Ehrlich, Sydney, ich habe keine Ahnung, wovon Sie
reden.«
    »Das waren nicht Sie?« Sydney beugt sich vor. »Ben, ganz im Ernst. Haben
Sie mich an dem Abend, als wir im Wasser waren, berührt oder nicht? Am ganzen Körper,
meine ich?« Sie bemüht sich, sachlich zu sprechen, jede Anklage zu vermeiden.
    »Ich habe mich gefragt, warum Sie so frostig waren«, erklärt Ben. »Es
hat an dem Abend angefangen, richtig?«
    »Das waren nicht Sie?«, fragt sie wieder.
    »Habe ich das richtig verstanden?«, fragt er. »Jemand – wahrscheinlich
ein Mann – ist Ihnen gegenüber unter Wasser zudringlich geworden?«
    Sydney nickt. Sie wartet.
    Ben
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