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Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Titel: Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Autoren: Seth Grahame-Smith
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von König Herodes oder die Elitesoldaten Roms. Und obwohl Tel Arad der großen Prachtstadt Judäas nicht das Wasser reichen konnte, wies es doch einen eigenen neuen, beeindruckenden Tempel auf. Einem Nicht-Kriminellen wäre das vielleicht wie ein triviales Detail vorgekommen. Doch für Balthasar war es von entscheidender Bedeutung. Tempel bedeuteten Reisende und Geldwechsler. Sie bedeuteten, dass ein Mann von fremdem Aussehen oder Akzent weniger Aufmerksamkeit erregte und dass jemand, der Diebesgut gegen Gold- und Silbermünzen eintauschen wollte, auf keine Schwierigkeiten stieß. Tempel waren die engsten Verbündeten eines Diebes.
    In Tel Arad hatten sich vor Jahrtausenden die ersten Siedler niedergelassen, und es war schon öfter zerstört und wieder aufgebaut worden, als die Einwohner aufzuzählen vermochten. Und jahrtausendelang war es niemals über den Rang eines »trostlosen Dorfes« hinausgekommen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Zu beiden Seiten der einst vergessenen Siedlung waren Imperien aus dem Boden geschossen und hatten es in ein florierendes Handelszentrum verwandelt. Auf einmal war Tel Arad die Schnittstelle für römische Waren auf dem Weg nach Osten und arabische Waren auf dem Weg nach Westen in Richtung Ägypten, dem Mittelmeer und, letztlich, Rom – und nach und nach hatte es den Status einer »Kleinstadt« errungen.
    Das aufschlussreichste Zeichen seiner wachsenden Bedeutung hatte sich erst vor einem Jahr ereignet, als Rom sich entschieden hatte, einen Statthalter – Decimus Petronius Verres – zu entsenden, der sich um das Städtchen kümmern sollte. Offiziell sollte Decimus dafür sorgen, dass Tel Arad den Traditionen treu blieb und an den Tugenden des römischen Lebens festhielt. Inoffiziell, und viel wichtiger, sollte er Störenfriede zum Tode verurteilen und dafür sorgen, dass die Einwohner ihre Steuern pünktlich entrichteten.
    Decimus seinerseits war am Boden zerstört gewesen, als er von der Aufgabe erfuhr. Selbstverständlich hatte man sie ihm als eine »große Ehre« verkauft. Er war »von Augustus persönlich ausgewählt worden, das Reich im Osten zu repräsentieren«. Doch Decimus wusste, worum es sich in Wirklichkeit handelte: eine Kastration. Eine Bestrafung, weil er im Senat einmal zu oft Partei gegen den Kaiser ergriffen hatte.
    Insgeheim hatte er aufgeschluchzt, als ihm die Neuigkeiten zu Ohren gekommen waren. Wie konnten sie ihm das antun? Zum einen war die Wüste kein Aufenthaltsort für einen Römer und schon gar nicht für einen seines beträchtlichen Gewichts und hellen Teints. Zum anderen war er dort, wo er war, rundum glücklich: sicher und ruhig verborgen in einem römischen Vorort, umgeben von den Insignien angemessenen, wenn auch nicht übertriebenen, Reichtums. Er war über fünfzig – viel zu alt, um ein neues Leben anzufangen und in der Hitze herumzulaufen. Rom war der Mittelpunkt der Welt. Hort sämtlicher Lustbarkeiten und Verlockungen, die ein Mensch sich nur wünschen konnte. Im Gegensatz dazu war die Wüste ein Todesurteil. Doch der Kaiser hatte gesprochen. Und Kastration hin oder her, Decimus blieb keine andere Wahl, als von dannen zu ziehen.
    Selbst von den ins Exil geschickten Vertretern der römischen Aristokratie wurde nicht erwartet, dass sie ohne die Annehmlichkeiten reisten, die sie aus der Heimat gewohnt waren. Kurz nach seiner Ankunft in Tel Arad ordnete Decimus den Bau eines von Mauern umgebenen Gebäudekomplexes nach seinen genauen Wünschen an – eine im größeren Maßstab errichtete, befestigte Nachbildung der Villa, die er in Rom besaß. Man ließ denselben Maler anreisen, der Kopien seiner Lieblingsfresken anfertigen sollte, dieselben Kunsthandwerker, die Steinchen für Steinchen die Mosaiken auf seinen Böden verlegten. Der gleiche Lustgarten und die gleichen Brunnen beherrschten den Innenhof in der Mitte der Villa. Dieselben Sklaven hatten die Reise unternommen, um Decimus bei Tag zu dienen, und dieselben Konkubinen, um ihm bei Nacht zu dienen.
    Das fertige Anwesen bot einen beeindruckenden Anblick. Ein glänzendes Symbol römischer Überlegenheit, das sich hinter drei Meter hohen Mauern vor den Blicken der Öffentlichkeit verbarg. Es befand sich auf einem Hügel über dem nordwestlichen Viertel der kleinen Stadt mit Blick auf den Tempel und den Basar weiter unten, wo sich, wie Decimus sagte, »das Gewieher der Tiere, das Gefeilsche der Kaufleute und die Gebete der Menschen zu einem anhaltenden Chor vermischten, der mir jeglichen
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