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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme
Autoren: John Barnes
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Haarpracht hinausragt, sie schaut Sibby
grollend in die Augen (soweit man das von der Seite aus beurteilen
kann), und sie praktiziert nun das, was alte Menschen wie Jesses
Vater als ›Verletzung der Intimsphäre‹ bezeichnen
– sie steht ohnehin schon dicht neben Sibby und rückt noch
dichter auf.
    Der ganze Vorgang provoziert ein bösartiges,
kampfeslüsternes Glimmen in Naomis Augen. Jesse weiß,
daß viele Leute sie in diesem Zustand abstoßend finden,
und er kann sich dem nur anschließen.
    Das erste, was ihm in der Vorlesung ›Ethik und
Identität‹, einer der Pflichtveranstaltungen an der U des
Az, auffiel, war ebendieses Glimmen, als sie drei
afro-europäische Studenten wegen Fehlen eines
feministischökologischen Bewußtseins attackierte.
    Das zweite war, daß sich unter ihren sackartigen Klamotten
ein wundervoller Körper verbarg.
    Jesses Zimmergenosse Brian, der auszog, als klar wurde, daß
sich zwischen Jesse und ihr etwas anbahnte, hatte eher beiläufig
bemerkt, daß Jesse, weil das, was ihn anmachte, eine Furie in
einem Traumkörper war, sie doch »einfach vergewaltigen und
dann vergessen solltest, Jess, wäre das nicht einfacher? Es
würde sie nur darin bestätigen, was sie eh von dir denkt,
und du hättest noch deinen Spaß dabei.«
    Jesse war schockiert gewesen. Die nächsten paar Male, als er
mit Naomi schlief, konnte er sich Vergewaltigungsphantasien nicht
erwehren. Wenn es auch für Phantasien ein Diem- Gesetz wie
für Clips gegeben hätte, dann wäre er ein Kandidat
für die Todesstrafe gewesen.
    Mag er sie wirklich? Er weiß es nicht – es scheint aber
auch nicht von Belang zu sein.
    Er hört überhaupt nicht hin, es entgeht ihm ohnehin
nicht viel, aber Gwendy und Sibby weinen beide, und Gwendys Freund
versucht, die zwei aus dem Saal zu schaffen. Sie liefern sich eine
Art Rückzugsgefecht, und mittlerweile sind anscheinend alle, die
sich mit Naomi unterhalten wollten, verschwunden, so daß Jesse
sie fast im Handumdrehen nach draußen bringt. In der
kühlen Nacht wandern sie zusammen durch die Wüste, bis
Jesse schließlich das Wort ergreift. »Hör zu«,
sagt er, »halt mir deswegen jetzt keinen Vortrag, aber ich habe
wirklich Lust, heute nacht mit dem Lectrajeep hinaus in die
Wüste zu fahren. Wir könnten es uns bequem machen und
über alles reden, was du auf dem Herzen hast.«
    Er weiß, daß seine Worte einer Kampfansage
gleichkommen. Sie mag den Lectrajeep nicht. Deepers wollen die
Natur schonen und führen sie sich deshalb per XV zu Gemüte.
Nicht einmal dann, wenn der Lectrajeep aufgrund der breiten
Ballonreifen und dem QuaDirec- Antrieb keine tieferen Spuren
als leichte Stiefel hinterläßt; Naomis Eltern haben sie
mit Schauergeschichten über die Umweltschäden
konditioniert, welche die Allradfahrzeuge vor fünfzig Jahren
angerichtet hatten, und das projiziert sie nun auf Jesses
Lectrajeep.
    Als er einmal versucht hatte, mit ihr in die Wüste
hinauszufahren, war sie ohne das XV-Team dort orientierungslos. Beim
XV schlüpft man in den Körper eines hochtrainierten
Athleten und streift leichtfüßig durch die Wildnis, wobei
man in ständigem Kontakt mit einem Wildnis-Poeten, einem
Naturalisten, einem Aktivisten und einem Schamanen steht. Ohne deren
Einflüsterungen konnte sie die Flora nicht identifizieren, war
ohne Anleitung und konnte sich auf keinerlei Erfahrung stützen,
sie wußte nichts von den Bedrohungen dieses Sektors des
Ökosystems beziehungsweise wer dafür verantwortlich war,
und es gebrach der Umwelt völlig an spiritueller Signifikanz.
Und was noch schlimmer war, sie transpirierte und machte sich
schmutzig – in ihrem bisherigen Leben hatte sie noch keinen Tag
ohne Dusche verbracht.
    Indem er auf den Lectrajeep rekurriert, provoziert er wohl Streit,
wenn er ehrlich gegenüber sich selbst ist; denn wenn sie sich
jetzt streiten und dann miteinander schlafen, ist es das, was er die
ganze Zeit schon gewollt hatte, und wenn sie sich nur streiten, wird
ihn das für das nächste Mal um so verrückter machen.
Er fragt sich allmählich, im Hinterkopf, welche Steigerung hier
überhaupt noch denkbar ist.
    Er ist völlig perplex, als sie seine Hand ergreift und sagt:
»Versuchen wir es. Ich habe mir überlegt, daß ich
vielleicht zu unflexibel bin oder mich nicht genügend
bemühe, auch einen anderen Standpunkt zu verstehen.«
    Jesses Herz pocht so heftig, als ob es aus der Brust hüpfen
wollte. »Großartig«, sagt er. »Die Fahrt zu
meinem Lieblingsplatz dauert ungefähr eine
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