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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter
Autoren: Petra Hammesfahr
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den Rücken gehalten hatte. «Das erhöht nur ihre Chancen, geheiratet zu werden. Wenn die Sache zwei zu zwei steht, fällt ihrem Freund die Entscheidung vielleicht nicht so schwer.»
    Jürgen starrte mich an. «Zwei zu zwei?»
    «Ihr Freund ist verheiratet und hat zwei Kinder. Jasmin hat es mir gerade erzählt. Wenn Freda Jankowik nun Zwillinge bekommt   …»
    Jürgen starrte mich immer noch an, aber jetzt war sein Blick anders. «Du hast es nicht gesehen. Zwillinge!» Er stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. «Wie lange machst du das jetzt schon? Fast zwei Jahre! Und du erinnerst dich doch bestimmt noch an Frau Terjung. Weißt du noch, wie du gejubelt hast: Das sind Zwillinge. Und weißt du auch noch, was dich zum Jubeln brachte?»
    Natürlich wusste ich es noch. Der zweite Herzschlag. Aber ich verstand Jürgens Wut noch nicht ganz. «Ich will mich nicht mit irgendetwas herausreden», sagte ich. «Aber ich darf dich vielleicht daran erinnern, dass du dich an dem Tag außerstande fühltest, in die Praxis zu fahren. Ich bin gefahren und habe meine Arbeit getan und deine! Es tut mir Leid, wenn mir dabei etwas Wesentliches entgangen ist. Ich habe kein zweites Herz gesehen.»
    «Das konntest du auch nicht», erklärte Jürgen kalt. «Es ist nämlich nur eins da. Aber du hättest den zweiten Kopf sehen müssen, wenn du nur mal richtig hingeschaut hättest. Sie hat dich doch noch drauf aufmerksam gemacht. Das sagte sie jedenfalls. Hier bitte, schau es dir an. Es ist deutlich zu sehen.»
    «Es tut mir Leid   …», begann ich.
    «Das sollte es auch», unterbrach er mich. «Du hast gedacht, sie will eine Abtreibung. Den Floh hatte Sandra dir ins Ohr gesetzt, die kauf ich mir auch noch. Aber, Herrgott nochmal, Vera, wenn dir morgen einer erzählt, die Erde sei doch eine Scheibe, glaubst du das auch?»
    «Es tut mir Leid, ich   …»
    «Da scheiß ich drauf», unterbrach er mich erneut. «Dafür, dass es dir Leid tut, kann sich keiner etwas kaufen. Jetzt werde ich dir mal etwas erzählen. Und das darfst du unbesehen glauben. Freda Jankowik will keine Abtreibung. Sie will dieses Geschöpf in die Welt setzen. Vor ein paar Wochen hätte sie vielleicht noch zugestimmt, aber jetzt spürt sie bereits Leben. Und sie meint, eines der Babys sei vielleicht lebensfähig. Das kann ich mir kaum vorstellen, es sind praktisch nur zwei Köpfe auf einem Körper mit vier Armen und vier Beinen. Weißt du, was sie sagte? Ich müsse doch wissen, was sie fühlt. Man könne nicht freiwillig ein Kind hergeben.»
    Es tat mir Leid, das tat es wirklich, aber ich wollte es nicht noch einmal sagen müssen.
    «Ich dachte, es ist der Rücken.»
    «Du dachtest! Verdammt nochmal, Vera. Wenn du dir deiner Sache nicht sicher warst, warum hast du nichts gesagt?»
    Ich war mir sicher gewesen! An dem Tag war ich es; sicher, dass Freda Jankowik nur ein Baby bekam und dass Udo von Wirth meine Tochter nicht getötet haben konnte, dass sein Geständnis sich nur auf die Fuchsstute bezog. Nun erwies sich eines davon als Irrtum.
     
    Dann saßen wir an einem Abend in der ersten Dezemberwoche zusammen im Wohnzimmer. Jürgen und ich. Anne war mit Patrick ins Kino gefahren und hatte gesagt, es könne spät werden, wir sollten uns keine Sorgen machen. Das taten wir auch nicht, um Anne hatten wir uns nie ernsthafte Sorgen gemacht. Um Rena machten wir uns auch keine mehr.
    Nach drei Monaten hat man sich an die Leere gewöhnt, an die Fragen und den Schmerz, dieses stets gegenwärtige dumpfe Bohren im Innern. Nach drei Monaten erinnert man sich kaum noch daran, dass es eine Zeit gab, in der man sein Inneres gar nicht fühlte.
    Wir nippten an unserem Schlummertrunk, immer noch Grand Marnier. Jürgen machte einen Scherz, dass wir die letzten vierzehn Tage abendlicher Ruhe genießen und bis zur letzten Sekunde auskosten sollten. Mitte Dezember wollte Vater wieder daheim sein. Die Ärzte sahen das anders, aber sie kannten Vater nicht.
    Es war kurz vor elf, als das Telefon klingelte. Jürgen schaute mit gerunzelter Stirn in die Diele. Wir rechneten beide damit, Regina Kolters Stimme zu hören. Tagsüber rief sie nicht mehr an. In der letzten Novemberwoche hatte sie es dreimal am Abend versucht in der festen Überzeugung, dass wir daheim wären. Das waren wir auch, wir waren nur nicht ans Telefon gegangen, obwohl sie jedes Mal dringend darum bat. Aber ich konnte nichts mehr hören von Tischchen, Karten und Brettern. Nur deshalb hing der Anrufbeantworter noch ständig an
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