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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter
Autoren: Petra Hammesfahr
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der Leitung.
    Das Gerät schaltete sich ein. Jürgens Stimme sagte den knappen Spruch auf. Dann kam die andere Stimme: «Hier ist der sechste Dezember, zweiundzwanzig Uhr dreiundfünfzig. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben   …»
    In der allerersten Sekunde wurde Jürgen blass. Ich sah, wie er zusammenzuckte, als er eine Männerstimme hörte. Dann wurde er wütend. «Was soll der Quatsch?»
    Er stemmte sich aus dem Sessel. Ich war schneller, huschte an ihm vorbei in die Diele, riss den Hörer hoch. «Vera Zardiss.»
    «Kemnich», sagte er. «Da habe ich ja Glück. Ich war mir nicht sicher, ob Sie schon im Bett liegen.»
    Ich hatte ihn fast vergessen. Nein, das stimmt nicht. Ich hatte nur gedacht, dass ich nie wieder von ihm hörte.
    «Ich dachte», sagte er, «es wird Zeit für einen kleinen Zwischenbericht. Ich habe sie noch nicht, um das mal vorweg zu nehmen. Aber ich bin ihr dicht auf den Fersen.»
    Jürgen stand mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen neben mir. Ich hatte das Gerät nicht abgeschaltet. Er hörte jedes Wort.
    «Sie hat bis vor ein paar Tagen in einer Art Kommune gehaust», sagte Kemnich. «Das war ein Sozialprojekt, Integrationsmaßnahmen und so, ist aber gescheitert. Die hatten sich einen alten Schuppen hergerichtet, war mal ganz nett. Inzwischen sieht es da wieder aus wie kurz nach dem Krieg. Von der ursprünglichen Mannschaft ist keiner mehr da. Was sich jetzt da aufhält ist, na, sagen wir mal, ziemlich weit unten, aber noch darum bemüht, ein Dach über dem Kopf zu haben.»
    «Und sie war da?»
    «Ja, das steht fest», sagte Kemnich. «Sie sieht wohl nicht mehr so aus wie auf den Fotos, die ich mir von ihren Freunden besorgt hatte. Aber sie war es mit Sicherheit. Nur wo sie hin ist, weiß ich noch nicht. Ich habe da ein paar widersprüchliche Auskünfte bekommen. Es ging ihr nicht so besonders. Und wenn die Typen einem sagen, nicht so besonders, heißt das im Klartext, verdammt dreckig. Ein Mädchen sagte, sie ist zurück nach Hause. Das ist sie eindeutig nicht, habe ich schon überprüft. Ein anderes Mädchen sagte, Blacky wollte sie ins Krankenhaus bringen. Darum kümmere ich mich morgen früh. Ich melde mich dann gegen Abend wieder.»
    Ich kam nicht dazu, eine Frage zu stellen oder mich von Kemnich zu verabschieden. Jürgen drückte die Gabel nieder und nahm mir den Hörer aus der Hand. Er legte ihn auf, als hielte er ein rohes Ei zwischen den Fingern. Dann griff er nach meinem Arm, führte mich zurück ins Wohnzimmer und drückte mich in meinen Sessel. Er blieb vor mir stehen. Eine Erklärung wollte er nicht.
    Er hielt sich auch nicht auf mit Fragen wie: «Wer ist Kemnich? Wem ist er auf den Fersen? Was hat dich auf die verrückte Idee gebracht, einen Privatdetektiv einzuschalten? Woher hast du das Geld genommen?» Er ging sofort zum Angriff über. «Hast du völlig den Verstand verloren? Was soll dieser Unsinn? Warum tust du dir das an, Vera?»
    Er sprach, als habe er dabeigestanden, als ich Kemnich den Auftrag gab, Nita zu suchen. Dass mit Kemnichs lapidarem Sie Renagemeint sein könnte, zog er nicht eine Sekunde lang in Betracht. «Was hast du davon, wenn er das Kolter-Weib aufspürt? Ruft die Kolter deshalb ständig hier an? Sie ist wohl nicht ganz einverstanden, was? Das wäre ich auch nicht an ihrer Stelle. Da war sie dieses Herzchen glücklich losgeworden, und du gehst hin   …»
    «Du hast ja keine Ahnung», unterbrach ich ihn.
    Er grinste. «Ich will auch keine Ahnungen, Hauptsache, du hast welche, und die Kolter hat ja auch einige. Ich sag dir was, Vera. Wenn du jetzt wieder anfängst mit Frankfurt und London, können wir beide einen Wettbewerb machen. Wer ist schneller im Kofferpacken. Ich bin schneller, das garantiere ich dir.»
    Bevor ich etwas sagen konnte, rannte er hinaus, stürmte die Treppe hinauf, oben knallte eine Tür. Und ich dachte, er hat Recht. Was habe ich davon? Mein Kind ist nicht in Frankfurt und nicht in London. Wenn sie bei Nita gewesen wäre, hätte Kemnich das erwähnt. Er hätte zumindest eine Andeutung gemacht, und sei es nur, um mir klarzumachen, dass er mehr Geld haben wollte.
    Ich ging Jürgen nach, wollte in Ruhe mit ihm reden, ihm erklären, dass Kemnich in die Zeit der Ungewissheit fiel, dass ich, wenn ich gewusst hätte, was ich wenig später erfuhr, auf seine Dienste verzichtet hätte. Ich wollte mich entschuldigen und sagen, dass es auch ein wenig seine Schuld war. Weil er mich belogen hatte und betrogen. Weil er seine
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