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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten
Autoren: Unbekannter Autor
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lesen wie in blauen Augen.
    Sie blickte von mir weg, während sie an mir vorbeiging, und es war, als ob mich schwache elektrische Ströme durchrieselten. Ihre Mutter, die doppelt so stark war wie sie, war an mir vorbeigegangen, ohne mich zu berühren. Aber nicht sie.
    »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie, ein unterdrücktes Lachen in ihrer Stimme.
    Ich stammelte eine unverständliche Antwort, die sich im Rascheln der Kleidung verlor, als die Gemeinde in die Knie ging. Ich sah sie an, während ich niederkniete.
    Sie kniete bereits, ihre Hände demütig auf der Lehne gefaltet, die Augen gesenkt.
    Ihr üppiger Körper zeichnete sich unter dem leichten Sommerkleid ab. Ein warmer, sinnlicher Duft strömte von ihr aus, und ich sah, wie sich ein kleiner feuchter Fleck auf ihrem Kleid unter ihrem Arm ausbreitete.
    Ich schloß die Augen und versuchte, mich auf mein Gebet zu konzentrieren. Ein paar Sekunden verstrichen, und ich begann mich etwas sicherer zu fühlen. Es war nicht so schlimm, wenn ich nur die Augen geschlossen hielt. Ich fühlte, wie sich das Mädchen neben mir bewegte. Ihr Schenkel drückte leicht gegen den meinen.
    Ich öffnete die Augen und sah sie an. Sie schien die Berührung nicht zu bemerken und hielt die Augen im Gebet geschlossen. Ich rückte ein wenig von ihr ab und wagte kaum zu atmen. Die Augen noch immer geschlossen, folgte sie meiner Bewegung. Ich befand mich ganz am Ende der Bank und konnte nicht weiter aus weichen, ohne auf den Gang hinauszufallen.
    So gut es ging, bemühte ich mich, an Gottes Wort zu denken. Aber es nützte nichts. Neben mir saß der Teufel.
    Endlich war das Gebet vorbei, und die Gemeinde erhob sich mühsam. Erst da wagte ich es wieder, sie anzusehen.
    Sie beachtete mich nicht; ihre Augen waren geradeaus gerichtet. Ich wollte aus der Bank heraustreten, aber sie ging bereits an mir vorbei. Ich blieb stehen, aber auch sie hielt an und trat zurück. Ich war verwirrt, aber sie lächelte höflich und ließ ihre Mutter an sich vorbeigehen. Dann wandte sie sich mir zu.
    Ich starrte in ihre Augen. Es lag etwas wie eine lächelnde Herausforderung in ihnen, wie ich es noch niemals zuvor in Augen gesehen hatte. Ein wildes, gefährliches Feuer, das meine Seele verzehrte. Ihre Lippen öffneten sich in einem Lächeln, und plötzlich vernahm ich Worte, obwohl ich hätte schwören können, daß sich ihre Lippen nicht bewegten. »Treffen wir uns mal, Mike?« flüsterte sie. Erst einige Augenblicke später, als sie in der Menge der Menschen, die sich den Gang entlangschoben, verschwunden war, wurde mir klar, daß sie meinen Namen kannte.
    Langsam ging ich dem Ausgang zu und fragte mich, wer sie sei. Vielleicht wäre mein Leben glücklicher verlaufen, wenn ich es niemals erfahren hätte.
    Mühsam schüttelte ich die Erinnerungen ab. Noch immer hielt ich die Papiere in der Hand. Sie mußten gelesen werden. Vierzig Minuten später würde ich den Gerichtssaal betreten. Ganz langsam, um mich besser zu konzentrieren, begann ich, Wort für Wort der Anklageschrift zu lesen.
    Wir betraten den Gerichtssaal durch eine Seitentür. Stille senkte sich über die Menschen, als wir auf unsere Plätze am Tisch rechts von den Richtern zugingen. Ich hob die Augen nicht, um die Zuschauer zu betrachten. Sie sollten den Zorn nicht sehen, den ich angesichts ihrer unersättlichen Neugier empfand. Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder und begann meine Papiere vor mir auszubreiten. Meine Erregung stieg. In gewisser Weise war ein Prozeß wie ein Boxkampf. Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und hoffte, die Verkrampfung meines Magens würde sich lösen.
    Nur um meine eigene Stimme zu hören, wandte ich mich an Joel. »Wie spät ist es?«
    Er warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand. »Fast zehn.« »Gut.« Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Gericht zusammentrat. Ich blickte verstohlen zum Tisch der Angeklagten hinüber. Der Platz war noch nicht besetzt.
    Joel bemerkte meinen Blick. »Vito wartet immer bis zum letzten Augenblick. Das gibt ihm die Möglichkeit eines eindrucksvollen Einzuges.«
    Ich nickte. Vito verstand sich auf sein Geschäft. Er war einer der erfolgreichsten Strafverteidiger in New York. Ein hochgewachsener, gutaussehender Mann mit einem grauen Haarschopf, unter dem seine durchbohrenden Augen besonders blau wirkten. Nur selten verlor er einen Prozeß, und er war ein Mann, der keine Mühe scheute. In der Staatsanwaltschaft hatten wir alle einen Heidenrespekt vor ihm.
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