Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Moralisten

Titel: Die Moralisten
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Plötzlich durchlief ein Murmeln der Erregung den Gerichtssaal hinter uns. Mehrmals durchzuckten Blitzlichter den Raum. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß sie nun den Gang entlangkamen.
    Ich hob den Kopf und wandte mich ihnen in dem Augenblick zu, in dem sie an der Schranke angelangt waren. Vito hatte bereits die Sperre geöffnet und war, mit dem Rücken zu mir, beiseite getreten, um seine Mandantin vorausgehen zu lassen. Ihre Blicke begegneten den meinen, als sie aufsah, um ihm zu danken.
    Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und ich blickte in sie hinein. Es war lange her. Sehr lange. Die Begegnung unserer Blicke war nur von kurzer Dauer. Schon hatte sie sich umgewandt und eilte auf ihren Platz zu.
    Ich beobachtete sie. Sie hatte einen so gelösten Gang. Wie gut ich mich dieser schlanken Fußknöchel entsann, dieser geschmeidigen Bewegungen in den schimmernden Nylonstrümpfen. Sie trug ein schwarzes Kostüm von strengem Schnitt und hatte sich einen blauen Flauschmantel um die Schultern gelegt. Ihr Haar war wie glänzendes Gold, kurz geschnitten und in kleinen Locken zu einer hohen Frisur gelegt. Sie nahm mit leichtem Zögern Platz und zog sich ihren Rock über die Knie. Vito setzte sich neben sie, und sie begannen miteinander zu reden.
    »Was für ein Weib!« flüsterte mir Joel ins Ohr.
    Seine Stimme klang bewundernd. Ich nickte wortlos.
    Es kostete mich alle Mühe, meinen Zorn nicht zu verraten. Darin lag das Problem. Das war immer das Problem gewesen. Sie war eine jener Frauen, deren sinnliche Ausstrahlung sie wie ein Heiligenschein umgab. Kein Mann konnte sich diesem Einfluß entziehen.
    Ich griff zu einem Bleistift und begann auf dem Papier eines Notizblocks zu kritzeln. Alec stieß mich leicht in die Seite, und ich hob den Kopf.
    Henry Vito kam auf unseren Tisch zu. Ich blickte ihm entgegen, als er selbstbewußt durch den Saal schlenderte, bis er vor mir stand. Er sah auf mich herab und lächelte zuversichtlich. »Guten Tag, Mike. Wie geht es dem Staatsanwalt?« fragte er.
    »Er erholt sich, Hank«, antwortete ich und erwiderte sein Lächeln. Seine Stimme war gerade so weit gedämpft, daß sie noch bis zu den Reihen der Presseleute reichte. »Was für ein Glücksfall, sich plötzlich mit so einem Blinddarm hinlegen zu können.«
    Ich hob die Stimme, damit die anderen meine Antwort hörten. »Das ganze Glück, das diesem Blinddarm entsprungen ist, hat sich auf Ihrer Seite des Gerichtssaals niedergelassen.«
    Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Wenn er es jemals bis zum Gouverneur bringt, Mike, schuldet er Ihnen einen ganzen Sack voll Dank.«
    Langsam erhob ich mich. Vito ist ein großer Mann. Aber ich bin größer - ohne Schuhe 1,88 Meter - und breitschultrig und sehe mit meiner gebrochenen Nase so gefährlich aus, daß er neben mir recht dürftig erscheint. Er blickte mich von unten her an, und ich lächelte. »Vielen Dank für die freundlichen Worte, Hank. Ich bin sicher, nach dem Prozeß werden Sie mir zustimmen, daß ich sie verdient habe.« Das Lächeln lag noch immer auf seinem Gesicht, aber er sagte nichts mehr und kehrte mit einer lässigen Handbewegung an seinen Tisch zurück. Ich blickte ihm nach, während er den Gerichtssaal durchquerte, bevor ich mich wieder setzte.
    »Lassen Sie sich von ihm nicht auf die Palme bringen, Mike«, flüsterte mir Joel ins Ohr.
    Ich lächelte kühl. »Bestimmt nicht.« »Als Sie aufstanden, habe ich gedacht, jetzt schlagen Sie ihn nieder«, raunte mir Alec zu.
    Mein Lächeln wurde breiter. »Einen Augenblick habe ich auch daran gedacht.«
    »Ich habe diesen gewissen Ausdruck in Ihrem Gesicht gesehen und ...« Alecs Flüstern wurde durch das Anschlagen des kleinen Hammers unterbrochen.
    Es raschelte, als wir uns alle erhoben. Der Richter betrat den Gerichtssaal. Peter Amelie war ein kleiner, untersetzter Mann, und als er sich nun der Richterbank näherte, sah er mit seinem engelhaften Gesicht und dem kahlen Schädel über dem Schwarz seines Talars wie eine pausbäckige Puppe aus. Er setzte sich und klopfte mit einer raschen Bewegung mit dem kleinen Hammer auf den Tisch.
    Die Stimme des Gerichtsdieners erklang. »Bitte herhören! Bitte herhören! Der dritte Strafsenat eröffnet die Sitzung. Den Vorsitz führt Richter Peter Amelie.«
    Nun gab es keinen Weg mehr zurück. Der Kampf hatte begonnen, der Schiedsrichter war in den Ring getreten. Alle Erregung verließ mich plötzlich. Von jetzt ab würde mich nichts mehr ablenken, keine Erinnerung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher