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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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jetzt… Das übertrifft die wildesten Vorstellungen; ich glaube, die sind völlig verrückt geworden.«
     

Daniel24,2
    Heute, da alles in der Helle der Leere erscheint, habe ich die Muße, den Schnee zu betrachten. Mein Vorgänger aus fernen Zeiten, der leidgeprüfte Komiker, hat sich hier in einer Residenz niedergelassen, die sich früher — wie Ausgrabungen und Fotografien bestätigen — am heutigen Standort der Einheit Proyecciones XXI.13 befand. Es handelte sich damals — das hört sich seltsam und ein wenig betrüblich an — um eine Residenz am Meer.
    Das Meer ist verschwunden und auch die Erinnerung an die Wellen. Wir verfügen über Ton- und Bilddokumente; doch keines davon erlaubt uns, die hartnäckige Faszination — wie so viele Gedichte bezeugen — konkret zu empfinden, die die Menschen beim Anblick der sich anscheinend immer wieder auf dem Sand brechenden Wellen des Ozeans erfüllte.
    Auch das erregende Gefühl bei der Jagd und beim Verfolgen der Beute können wir nicht verstehen, genausowenig wie die religiöse Ergriffenheit oder jene Art unbewegte, gegenstandslose Raserei, die die Menschen als mystische Ekstase bezeichnet haben.
    Früher, als die Menschen zusammenlebten, verschafften sie sich mit Hilfe körperlicher Kontakte gegenseitige Befriedigung; das können wir verstehen, denn wir haben die Botschaft der Höchsten Schwester erhalten. Hier die Botschaft der Höchsten Schwester in der Sprache der Intermediation:
    »Zugeben, daß die Menschen weder Würde besitzen noch Rechte haben; daß Gut und Böse einfache Begriffe sind, theoretisch wenig untermauerte Formen von Lust und Schmerz.
    In allem die Menschen wie Tiere behandeln, die Verständnis und Mitleid verdienen, was ihre Seelen und ihre Körper angeht.
    Nicht abweichen von diesem edlen, vortrefflichen Weg.«
    Dadurch, daß wir den Pfad der Lust verlassen haben, ohne daß es uns gelungen ist, ihn zu ersetzen, haben wir nur eine der relativ spät entstandenen Tendenzen der Menschheit fortgesetzt. Als die Prostitution endgültig verboten worden war und das Verbot tatsächlich auf dem ganzen Erdball eingehalten wurde, begann für die Menschheit das graue Zeitalter. Sie haben es nie verlassen, jedenfalls solange nicht, bis die Herrschaft des Menschengeschlechts endgültig zu Ende war. Keine wirklich überzeugende Theorie, um das zu erklären, was allem Anschein nach ein kollektiver Selbstmord war, ist je formuliert worden.
    Androide Roboter mit einer gut funktionierenden künstlichen Vagina kamen auf den Markt. Ein Expertensystem analysierte in Echtzeit die Beschaffenheit der männlichen Geschlechtsorgane, sorgte für die Temperatur- und Druckverteilung; ein radiometrischer Sensor ermöglichte es, die Ejakulation vorherzusehen, die Stimulation dementsprechend anzupassen und den Akt so lange wie gewünscht andauern zu lassen. Ein paar Wochen lang hatte dieses Produkt aufgrund der Neugier großen Erfolg, dann brach der Verkauf über Nacht zusammen: Die Firmen der Robotikbranche, von denen manche mehrere hundert Millionen Euro investiert hatten, meldeten eine nach der anderen Konkurs an. Dies wurde von einigen Kommentatoren als Ausdruck des Willens gewertet, zu menschlichen Beziehungen zurückzukehren, die natürlicher und authentischer waren; das war selbstverständlich ein eklatanter Irrtum, wie sich später klar herausstellen sollte: In Wirklichkeit waren die Menschen ganz einfach im Begriff aufzugeben.
     

Daniel1,3
    »Ein Getränkeautomat spendete uns
    eine ausgezeichnete heiße Schokolade.
    Wir tranken sie in einem Zug
    mit unverhülltem Genuß.«
    Patrick Lefebre — Fahrer eines
    Krankenwagens für Tiere
    Meine Show Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen war ohne Zweifel der Höhepunkt meiner Karriere — von der Medienwirkung her, meine ich natürlich. Ich verließ vorübergehend die Seiten »Kunst und Kultur« der Tageszeitungen und tauchte unter der Rubrik »Justiz und Gesellschaft« auf. Muslimische Vereine stellten Strafanträge, es gab Bombendrohungen, na ja, endlich tat sich mal was. Ich war ein Risiko eingegangen, das stimmt schon, aber das Risiko war wohlkalkuliert; den fundamentalistischen Islamisten, die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ins Bewußtsein der Öffentlichkeit drangen, wurde ein ähnliches Schicksal zuteil wie den Punks. Sie wurden zunächst durch das Auftauchen von höflichen, netten, frommen Muslimen, die der Ahmadiyya-Szene angehörten — die in gewisser Weise ein Pendant zur New-Wave-Bewegung
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