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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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Franconville in einem Mietshaus gedreht, das zum Abbruch bestimmt war, aber es sollte so aussehen, als sei sie in Ost-Jerusalem gedreht. Es handelte sich um das Gespräch zwischen einem Terroristen der Hamas und einem deutschen Touristen, das mal die Form der an Pascal angelehnten Frage, worauf die menschliche Identität gründe, und mal die einer wirtschaftlichen Betrachtung annahm — grob gesagt, in der Richtung von Schumpeter. Der palästinensische Terrorist brachte als erstes die These vor, daß der Wert der Geisel in metaphysischer Hinsicht gleich Null sei — da es sich um einen Ungläubigen handelte; daß dieser Wert andererseits aber auch nicht negativ sei — wie es zum Beispiel bei einer jüdischen Geisel der Fall gewesen wäre; den Deutschen umzubringen, sei also nicht wünschenswert, sondern lediglich uninteressant. In wirtschaftlicher Hinsicht dagegen besäße die Geisel einen hohen Wert — da sie einer reichen Nation angehörte, die dafür bekannt war, daß sie sich mit ihren Staatsangehörigen solidarisch zeigte. Nach diesen Vorbemerkungen unternahm der palästinensische Terrorist eine Reihe von Experimenten. Als erstes riß er der Geisel — mit bloßen Händen — einen Zahn aus und gab dann zu Protokoll, daß ihr Wert im Rahmen einer Lösegeldforderung unverändert blieb. Dann tat er das gleiche mit einem Fingernagel — wobei er diesmal eine Zange benutzte. Anschließend tauchte ein zweiter Terrorist auf, und unter den beiden Palästinensern entspann sich eine kurze Diskussion, die mehr oder weniger darwinistischen Inhalts war. Die Folge davon war, daß sie der Geisel die Hoden abrissen, wobei sie jedoch anschließend die Wunde sorgfältig vernähten, um zu verhindern, daß der Mann zu schnell starb. Gemeinsam kamen sie zu dem Schluß, daß sich nur der biologische Wert der Geisel durch die Operation geändert hatte; ihr metaphysischer Wert blieb gleich Null und der Wert im Hinblick auf eine Lösegeldforderung sehr hoch. Kurz, die geistige Nähe zu Pascal wurde immer offensichtlicher — und der Anblick der Bilder immer unerträglicher; ich war im übrigen überrascht, wie billig es ist, Trickszenen zu drehen, wie sie in Gore-Filmen üblich sind.
    Die vollständige Fassung meines Kurzfilms wurde ein paar Monate später im Rahmen des Festivals des Unheimlichen gezeigt, und im Anschluß daran bekam ich eine Flut von Filmangeboten. Seltsamerweise nahm Jamel Debbouze wieder Kontakt zu mir auf. Er wollte die Rolle des Komikers, die ihm anhaftete, einmal abstreifen und einen bad boy spielen, einen richtigen Bösewicht. Sein Agent überzeugte ihn schnell davon, daß er damit einen Fehler begehen würde, und letztlich ist auch nichts daraus geworden, aber ich finde, die Anekdote ist bezeichnend. Um sie besser einordnen zu können, muß man sich wieder vor Augen halten, daß in jenen Jahren — den letzten Jahren, in denen es in Frankreich noch eine wirtschaftlich unabhängige Filmindustrie gab — die einzigen nachweisbaren Erfolge, bei denen wenigstens die Kosten wieder eingespielt wurden, auch wenn diese Filme nicht mit den Produkten der amerikanischen Filmindustrie rivalisieren konnten, der Gattung der Komödie angehörten — ganz gleich, ob subtil oder vulgär, in beiden Fällen konnte es zum Erfolg kommen. Andererseits war die künstlerische Anerkennung — die Voraussetzung für die Vergabe der letzten staatlichen Subventionen sowie für eine ausreichende Berichterstattung in den tonangebenden Medien — sowohl in der Filmbranche wie in den anderen künstlerischen Bereichen vor allem solchen Produktionen vorbehalten, die das Böse verherrlichten oder zumindest die im herrschenden Sprachgebrauch als traditionell bezeichneten moralischen Werte in kruder Weise in Frage stellten, so daß mit diesen sich kaum voneinander unterscheidenden Mini-Pantomimen eine gewisse Form von institutioneller Anarchie unterstützt wurde, was ihrem Reiz in den Augen der Kritiker jedoch keinen Abbruch tat, nicht zuletzt, weil diesen dadurch die Aufgabe erleichtert wurde, ihre eingefahrenen, immer gleichen Kritiken zu schreiben, aber mit dem Gestus, als beträten sie Neuland. Der Moral den Hals umzudrehen war geradezu zu einem Opferritual geworden, mit dem die herrschenden Werte der Gruppe erneut bekräftigt wurden, die seit Jahrzehnten auf Wettbewerb, Innovation und Leistungsfähigkeit und nicht so sehr auf Treue und Pflicht gepolt waren. Die Anpassungsfähigkeit, die eine hochentwickelte Wirtschaft erforderte, war
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