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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin
Autoren: Neil Gaiman
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eintraf. Er war sechsunddreißig Jahre alt.
    Bei der Untersuchung gab der Coroner zu Protokoll, die Autopsie habe ergeben, dass Gordon einen angeborenen Herzfehler gehabt hatte. Es hätte schon viel früher passieren können.
    Während der ersten drei Tage nach seinem Tod empfand Belinda überhaupt nichts. Ein allumfassendes, grauenvolles Nichts. Sie tröstete die Kinder, sie sprach mit ihren Freunden und mit Gordons Freunden, mit ihrer Familie und mit Gordons Familie, nahm ihre Beileidsbekundungen würdevoll und dankend entgegen, wie man ein unerwartetes Geschenk annimmt. Sie hörte andere Menschen um Gordon weinen, was sie bislang nicht getan hatte, und fühlte absolut gar nichts.
    Melanie, inzwischen elf Jahre alt, schien recht gut damit fertig zu werden. Kevin vergaß seine Bücher und Computerspiele, saß in seinem Zimmer, starrte aus dem Fenster und wollte nicht reden.
    Am Tag nach der Beerdigung fuhren ihre Eltern zurück aufs Land und nahmen beide Kinder mit. Belinda weigerte sich mitzukommen. Es gebe zu viel zu tun, sagte sie.
    Am vierten Tag nach der Beerdigung, als sie das Doppelbett machte, das sie und Gordon geteilt hatten, fing sie an zu weinen. Schluchzen schüttelte sie in gewaltigen, hässlichen Krämpfen der Trauer. Tränen fielen auf die Tagesdecke, klarer Rotz rann ihr aus der Nase und sie setzte sich abrupt auf den Boden, wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich durchschnitten werden, und sie weinte beinah eine Stunde lang, weil sie wusste, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
    Sie wischte sich übers Gesicht. Dann schloss sie ihre Schmuckschublade auf, nahm den Umschlag heraus und öffnete ihn. Sie zog das cremefarbene Blatt heraus und überflog den säuberlich getippten Text. Jene Belinda da auf dem Blatt hatte betrunken einen Autounfall gebaut und sollte ihren Führerschein verlieren. Seit Tagen hatten sie und Gordon kein Wort mehr miteinander gesprochen. Vor achtzehn Monaten hatte er seinen Job verloren und saß jetzt den ganzen Tag in ihrem Haus in Salford herum. Sie lebten von dem bisschen Geld, das Belindas Job einbrachte. Melanie war völlig außer Kontrolle geraten. Beim Aufräumen in ihrem Zimmer hatte Belinda in einem Versteck ein Bündel Fünf- und Zehnpfundnoten gefunden. Melanie hatte keinerlei Erklärung abgegeben, wie ein elfjähriges Mädchen an all das Geld kam, hatte, als ihre Eltern sie zur Rede stellten, den Rückzug in ihr Zimmer angetreten und sie mit verkniffenem Mund böse angestarrt. Weder Gordon noch Belinda waren der Sache weiter auf den Grund gegangen. Sie fürchteten sich zu sehr davor, was sie möglicherweise herausfinden könnten. Das Haus in Salford war heruntergekommen und so feucht, dass der Putz in großen, zerbröselnden Plakaten von der Decke fiel, und sie litten alle drei an chronischer Bronchitis.
    Belinda hatte Mitleid mit ihnen.
    Sie steckte das Blatt zurück in den Umschlag. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, Gordon zu hassen, von ihm gehasst zu werden. Sie fragte sich, wie es wäre, wenn es Kevin nicht in ihrem Leben gäbe, seine Flugzeugbilder nicht mehr zu sehen, seine sagenhaft unmelodischen Darbietungen aktueller Popsongs nicht mehr zu hören. Sie fragte sich, woher Melanie – die andere Melanie, nicht ihre Melanie, sondern die, die Melanie unter einem weniger glücklichen Stern hätte werden können –, woher sie das Geld hatte, und sie war erleichtert, dass ihre Melanie wenige Interessen neben klassischem Tanz und Enid-Blyton-Büchern zu haben schien.
    Sie vermisste Gordon so furchtbar, dass es sich anfühlte, als werde ein scharfer Gegenstand in ihre Brust getrieben, ein Eiszapfen vielleicht oder ein Dorn, geschmiedet aus Kälte und Einsamkeit und der Gewissheit, dass sie ihn in dieser Welt nie wiedersehen würde.
    Dann nahm sie den Umschlag mit hinunter ins Wohnzimmer, wo ein Kohlenfeuer im Kamin brannte, denn Gordon hatte immer eine Schwäche für offenes Feuer gehabt. Er sagte, es gebe einem Raum Leben. Sie mochte Kohlenfeuer nicht sonderlich, doch heute Abend hatte sie es aus Routine und Gewohnheit angezündet und weil es nicht anzuzünden bedeutet hätte, dass sie sich unwiderruflich hätte eingestehen müssen, dass er nie mehr nach Hause kommen würde.
    Eine Zeit lang saß Belinda da und starrte ins Feuer, dachte darüber nach, was sie alles in ihrem Leben hatte, was sie aufgegeben hatte und ob es schlimmer war, jemanden zu lieben, den es nicht mehr gab, oder jemanden nicht zu lieben, der da war.
    Und schließlich warf sie den
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