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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin
Autoren: Neil Gaiman
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nicht.«
    »Nein.«
    »Lass es mich noch mal sehen«, bat sie. Er gab ihr das Blatt. »Das ist wirklich merkwürdig. Ich meine, das ist nicht witzig und wahr ist es auch nicht.«
    Säuberlich getippt stand auf dem Blatt ein kurzer Abriss der vergangenen zwei Jahre in der Geschichte von Gordon und Belinda. Es waren keine guten Jahre gewesen, wollte man dem Text glauben. Sechs Monate nach der Hochzeit hatte ein Pekinese Belinda in die Wange gebissen. Die Bisswunde war so groß, dass sie genäht werden musste, was eine hässliche Narbe hinterlassen hatten. Damit nicht genug, waren auch Nerven verletzt worden und sie hatte angefangen zu trinken, vielleicht um den Schmerz zu betäuben. Sie hatte den Verdacht, dass ihr entstelltes Gesicht Gordon abstieß, und das Baby, stand dort, war ein verzweifelter Versuch, ihre Ehe zu kitten.
    »Warum schreiben die so was?«
    »Die?«
    »Wer immer dieses scheußliche Ding verfasst hat.« Sie fuhr sich mit dem Finger über die Wange: sie war makellos und unversehrt. Belinda war eine sehr schöne junge Frau, auch wenn sie jetzt erschöpft und zerbrechlich aussah.
    »Und woher willst du wissen, dass mehr als eine Person dahinter steckt?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie und legte das Baby an die linke Brust. »Es sieht einfach so aus. Das Ding zu schreiben und gegen das alte zu vertauschen und zu warten, bis einer von uns es liest … Hier, Melanie, ja, so ist es recht, du bist ja so ein gutes Mädchen …«
    »Soll ich es wegwerfen?«
    »Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich glaube …« Sie streichelte dem Baby die Stirn. »Lass es uns lieber aufbewahren. Vielleicht brauchen wir es als Beweis. Ich frage mich, ob Al das ausgeheckt hat.« Al war Gordons jüngster Bruder.
    Gordon steckte das Blatt zurück in den Umschlag, den Umschlag wieder in die Schachtel, die unters Bett geschoben wurde und mehr oder minder in Vergessenheit geriet.
    Sie bekamen beide nicht viel Schlaf in den folgenden Monaten. Melanie musste nachts gestillt werden und weinte viel, denn sie litt an Koliken. Die Schachtel blieb unter dem Bett. Dann bot man Gordon einen Job in Preston an, ein paar hundert Meilen weiter nördlich. Da Belinda Erziehungsurlaub hatte und in absehbarer Zeit nicht wieder arbeiten wollte, gefiel ihr die Idee recht gut. Also zogen sie um.
    In einer malerischen Kopfsteinpflasterstraße fanden sie ein Haus: hoch und alt und tief. Belinda half gelegentlich in der örtlichen Tierarztpraxis aus, wo sie Klein- und Haustiere behandelte. Als Melanie achtzehn Monate alt war, brachte Belinda einen Sohn zur Welt. Sie nannten ihn Kevin, nach Gordons verstorbenem Großvater.
    Gordon wurde Teilhaber des Architektenbüros. Als Kevin in den Kindergarten kam, fing Belinda wieder an zu arbeiten.
    Die Schachtel war nie verloren gegangen. Sie lag in einem der unbewohnten Zimmer unter einem windschiefen Stapel von The Architect’s Journal und Architectural Review . Gelegentlich dachte Belinda an die Schachtel und deren Inhalt und eines Abends, als Gordon in Schottland war, um die Inhaber eines alten Familienschlosses über Modernisierungsmaßnahmen zu beraten, ließ sie ihren Gedanken Taten folgen.
    Beide Kinder schliefen. Belinda stieg die Treppe hinauf in den unbewohnten, nicht tapezierten Teil des Hauses. Sie räumte die Zeitschriften beiseite und öffnete die Schachtel. Wo der Deckel nicht mit Zeitschriften bedeckt gewesen war, lag eine zwei Jahre alte, unberührte Staubschicht. Auf dem Umschlag stand nach wie vor Gordons und Belindas Ehe und Belinda war sich ehrlich nicht mehr sicher, ob da je etwas anderes gestanden hatte.
    Sie nahm das Blatt aus dem Umschlag und las. Und dann legte sie es beiseite und saß dort oben im Dachgeschoss ihres Hauses und fühlte sich erschüttert und elend.
    Der säuberlich getippte Text besagte, Kevin, ihr zweites Kind, sei nie geboren worden; sie habe im fünften Monat eine Fehlgeburt gehabt. Seither leide Belinda unter häufigen Anfällen düsterer Depressionen. Gordon sei selten zu Hause, stand da, denn er hatte eine ziemlich erbärmliche Affäre mit der Seniorpartnerin seiner Firma, einer gut aussehenden, aber unsicheren Frau, die zehn Jahre älter war als er. Belinda trank immer mehr und sie trug hohe Rollkragen und Schals, um die spinnennetzartige Narbe auf der Wange zu verstecken. Sie und Gordon sprachen nicht viel miteinander, es sei denn, sie trugen die belanglosen, kleinlichen Streitereien aus, hinter denen man sich versteckt, wenn man die ernste Auseinandersetzung
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