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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin
Autoren: Neil Gaiman
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von wem es ist.«
    Sie spähte in den Umschlag, um festzustellen, ob vielleicht noch irgendetwas darinsteckte, das sie übersehen hatten, ein Zettelchen von demjenigen ihrer Freunde (oder seiner oder ihrer gemeinsamen), der oder die das hier geschrieben hatte, aber sie fand nichts. Eine Danksagung weniger, dachte sie flüchtig und ein bisschen erleichtert, steckte das cremefarbene Blatt zurück in den Umschlag, den sie zusammen mit einer der Menükarten vom Hochzeitsessen, einer Einladungskarte, den Kontaktabzügen der Hochzeitsfotos und einer weißen Rose aus ihrem Brautstrauß in eine Pappschachtel legte.
    Gordon war Architekt, Belinda Tierärztin. Für beide war Berufung, was sie taten, nicht einfach nur Broterwerb. Sie waren Anfang zwanzig. Keiner von beiden war zuvor verheiratet gewesen oder hatte auch nur eine feste Beziehung gehabt. Sie hatten sich kennen gelernt, als Gordon seinen dreizehnjährigen, halb gelähmten und ergrauten Golden Retriever Goldie zum Einschläfern in Belindas Praxis gebracht hatte. Er hatte Goldie bekommen, als er noch ein Junge war, und bestand darauf, bis zum Ende bei ihr zu bleiben. Belinda hatte seine Hand gehalten, als er weinte, und dann, ganz plötzlich und unprofessionell, hatte sie ihn in die Arme genommen, ganz fest, als könne sie den Schmerz, den Verlust und die Trauer aus ihm herauspressen. Einer von beiden fragte, ob sie abends zusammen im nahen Pub ein Bier trinken wollten, und nachher wussten sie beide nicht mehr genau, wer es vorgeschlagen hatte.
    Das Wichtigste, das es über die ersten beiden Jahre ihrer Ehe zu sagen gibt, ist das: Sie waren relativ glücklich. Hin und wieder gab es Reibereien und gelegentlich hatten sie auch schon mal einen mordsmäßigen Krach über nichts Besonderes, der regelmäßig in tränenreicher Versöhnung endete, und dann liebten sie sich, küssten die Tränen des anderen weg und baten sich flüsternd, in tiefster Aufrichtigkeit um Verzeihung. Gegen Ende des zweiten Jahres, sechs Monate nachdem sie die Pille abgesetzt hatte, wurde Belinda schwanger.
    Gordon kaufte ihr eine Kette mit winzigen Rubinen und machte aus dem Gäste- ein Kinderzimmer. Er tapezierte es selbst. Die Tapete war mit Figuren aus Kindergedichten bedruckt, Little Bo Peep und Humpty Dumpty und Little Miss Muffet in endloser Wiederholung.
    Als Belinda die kleine Melanie aus dem Krankenhaus nach Hause brachte, kam Belindas Mutter sie für eine Woche besuchen und schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa.
    Am dritten Tag holte Belinda die Pappschachtel hervor, um ihrer Mutter die Hochzeitsandenken zu zeigen und sich zu erinnern. Es schien alles schon so lange her zu sein. Sie lächelten über das vertrocknete, braune Ding, das einmal eine weiße Rose gewesen war, und lasen noch einmal die Menükarte und die Einladung. Ganz unten lag der große braune Umschlag.
    »Gordons und Belindas Ehe«, las Belindas Mutter vor.
    »Es ist eine Beschreibung unserer Hochzeit«, erklärte Belinda. »Wirklich schön. Sogar das mit Daddys Dias kommt vor.«
    Belinda öffnete den Umschlag und zog das cremefarbene Blatt heraus. Sie las den maschinengeschriebenen Text und verzog dann das Gesicht. Schließlich legte sie es ohne ein weiteres Wort wieder weg.
    »Darf ich es nicht lesen, Liebes?«, fragte ihre Mutter.
    »Ich glaube, Gordon wollte mir einen Streich spielen«, sagte Belinda. »Keinen besonders geschmackvollen.«
    Als Belinda an diesem Abend im Bett saß und Melanie stillte, sagte sie zu Gordon, der seine Frau und Tochter mit einem dümmlichen Lächeln bewunderte: »Warum hast du das geschrieben, Liebling?«
    »Was denn?«
    »In dem Brief. Dieses Hochzeitsding. Du weißt schon.«
    »Nein, keine Ahnung.«
    »Das war nicht komisch.«
    Er seufzte. »Wovon redest du?«
    Belinda wies auf die Schachtel, die sie nach oben gebracht und auf ihre Frisierkommode gelegt hatte. Gordon öffnete den Deckel und nahm den Umschlag heraus. »Hat das hier immer schon auf dem Umschlag gestanden?«, fragte er. »Ich dachte, es war irgendwas von unserer Hochzeit.« Dann nahm er den Bogen mit den ungleichmäßigen Rändern, las und runzelte die Stirn. »Das habe ich nicht geschrieben.« Er drehte das Blatt um und starrte auf die leere Rückseite, als erwarte er, dort noch mehr Text zu finden.
    »Du warst es nicht?«, fragte sie. »Ganz ehrlich?« Gordon schüttelte den Kopf. Belinda wischte dem Baby ein kleines Milchrinnsal vom Kinn. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Ich dachte, du hättest es geschrieben, aber das stimmt
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