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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Autoren: Kai Meyer
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einmal, wieder ohne Erfolg.
    Während Vermithrax zur Balustrade aufstieg, blickte Merle zum Zugang des Treppenschachts. Von oben ließ sich erkennen, dass eine schwere Steinplatte darüber lag, groß wie eine venezianische Piazza. Ein breiter Riss hatte sie von einer Seite zur anderen gespalten; das war die Öffnung, durch die sie hinaus in die Halle geflogen waren. Irgendwer hatte, vermutlich schon vor langer Zeit, alles Erdenkliche getan, um den Lilim den Weg zur Oberwelt zu versperren. Vergeblich.
    Der Riss klaffte als schwarzes Maul im Boden der Halle. Noch immer zeigte sich keiner ihrer Verfolger.
    »Wir haben –«
    – sie abgehängt, wollte sie sagen. Im selben Moment riss Junipa sie nach hinten.
    Merles steif gefrorene Finger verloren ihren Halt in Vermithrax’ Mähne, die Königin schrie etwas in ihren Gedanken, der Rücken des Obsidianlöwen glitt unter ihnen hinweg, und dann fielen sie.
    Fielen hinab in die Dunkelheit.
    Einen Augenblick lang glaubte Merle, sie würden durch den Riss geradewegs zurück in die Hölle stürzen. Aber sie waren längst zu weit vom Treppenschacht entfernt. Stattdessen endete ihr Fall schon nach wenigen Herzschlägen auf einer Schräge aus lockerem Geröll, einem Überrest der Rampe, etwa auf halber Höhe der Halle. Merle schlug der Länge nach auf. Ihr Rücken fühlte sich an, als zerspränge er in Stücke. Dann purzelte sie zur Seite, rollte ein paar Meter weit und wurde von einem flachen Gesteinsstück aufgehalten. Es befand sich unter einem Trümmerüberhang, der es gegen Blicke von oben abschirmte.
    Junipa kam neben ihr auf, krachte gegen den Stein wie ein Bündel loser Knochen. Aber im Gegensatz zu Merle schrie sie nicht. Gab überhaupt keinen Laut von sich.
    Du kannst es fühlen …
    Merle blickte auf, sah durch den Spalt unter dem Überhang hinaus und entdeckte Vermithrax, leuchtend wie ein Stern in der Finsternis, viel zu weit entfernt. Er flog eine Schleife und hielt nach ihr Ausschau. Sie wollte ihn rufen, aber nur ein Krächzen kam über ihre Lippen. Sand war in ihrem Mund, knirschte zwischen ihren Zähnen. Ihr Atem dampfte weiß wie Rauch. Der Boden unter ihr war so kalt, dass sie einen Augenblick lang fürchtete, ihre Handflächen würden daran festfrieren. Sie war eine solche Kälte nicht gewohnt, nicht um diese Jahreszeit, erst recht nicht nach der Wärme im Erdinneren.
    Junipa.
    Merle schaute sich suchend nach ihrer Freundin um, wollte zu ihr kriechen, um ihr zu helfen. Sie fuhr erschrocken zusammen, als Junipa plötzlich neben ihr stand und mit teilnahmsloser Miene auf sie herabsah. Ihre Spiegelaugen reflektierten nichts als die Dunkelheit; sie sahen aus wie leere Höhlen.
    Junipa blutete aus einer Wunde am Knie, und ihre Handflächen waren aufgeschürft, doch sie schien den Schmerz gar nicht zu spüren.
    Starrte nur auf Merle.
    Starrte mit schwarzen Spiegelscherben. Mit Augen, die alles durchdrangen. Ich soll für ihn in andere Welten blicken. In Welten, die ein neues Herz brauchen.
    »Wir müssen hier weg«, sagte Merle und stemmte sich nach oben.
    Junipa schüttelte den Kopf. »Wir warten.«
    »Aber -«
    »Wir warten.«
    » Begreifst du’s denn immer noch nicht?«, fragte die Königin.
    Natürlich begriff Merle - aber sie wollte es nicht wahrhaben. Unmöglich. Nicht Junipa.
    »Das war kein Unfall«, sagte die Königin. »Sie hat das absichtlich getan.«
    Der Obsidianlöwe zog eine weitere Runde im Dunkeln und passierte den Ausschnitt, durch den Merle unter dem Überhang hervorschauen konnte. Er würde sie hier unten nicht finden, wenn sie nicht irgendwie unter dem Vorsprung hervorkroch.
    Aber da stand Junipa, genau in ihrem Weg.
    »Lass mich durch«, sagte Merle. Ihr rechter Knöchel tat weh und trug kaum ihr Gewicht.
    Junipa bewegte sich nicht. Starrte nur.
    »Lass mich durch.«
    Es war dunkel hier unten, der einzige ferne Lichtschimmer kam von der Öffnung hoch über ihnen und von Vermithrax. Er rief jetzt Merles Namen, und diesmal antwortete sie ihm. Aber sie bezweifelte, dass ihre Stimme unter dem Überhang hervordrang, nicht bis hinauf zu dem Löwen.
    Junipa machte einen Schritt auf sie zu. Die Finsternis in ihren Augen kam näher.
    »Was haben sie mit dir getan?«, fragte Merle.
    »Du kannst es -«
    »Fühlen, ja, ich weiß. Aber ich will, dass du’s mir sagst.«
    Junipa legte kurz den Kopf schräg, als überlegte sie, was Merle wohl damit meinte. Dann begann sie, die Knopfleiste ihres Kleides zu öffnen. Ihre flache Brust, knochig wie alles an ihr,
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