Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
als Vermithrax. Die meisten hatten weite Schwingen, die sie mit großer Geschwindigkeit vorwärts trugen; doch wenn es darum ging, nach oben aufzusteigen, flatterten sie wie die voll gefressenen Tauben auf Venedigs Zattere-Kai.
    Vorhin, bevor sie den Turm erreicht hatten, hatte Burbridge etwas zu Merle und Junipa herübergerufen, doch aufgrund der kreischenden Winde und des Lärms der vielen Flügelpaare hatte sie ihn nicht verstehen können. Sein Lächeln irritierte sie und machte ihr mehr Angst, als sie sich eingestehen wollte. Es war kein siegessicheres Lachen, kein vorschneller Triumph - nein, sie hatte fast den Eindruck, als kehrte er abermals seine Freundlichkeit und Güte heraus.
    Bleib bei mir, ich bin dein Freund. Gib auf, und alles wird gut.
    Nie im Leben!
    Sie konnte nur vage einschätzen, wie hoch sie sich mittlerweile befanden. Die Felswüste war längst zu einem gleichförmigen Orange verschmolzen, Einzelheiten waren nicht mehr auszumachen. Die Turmwände maßen in dieser Höhe von einer Ecke zur anderen an die hundert Meter und waren damit nur noch halb so breit wie unten am Boden. Merle schätzte, dass sie ungefähr die Hälfte des Aufstiegs hinter sich gebracht hatten, mindestens zwei Kilometer. Die Vorstellung, in dieser Höhe von Vermithrax’ Rücken zu fallen, war alles andere als erbaulich, und sie spürte, wie sich ihre Hände instinktiv immer tiefer in seine glühende Mähne gruben. Junipa in ihrem Rücken war schweigsamer denn je, aber im Augenblick war das Merle ganz recht. Ihr selbst war nicht nach Reden zu Mute. Ohnehin raste ihr Atem so sehr, als wäre sie diejenige, die die anderen nach oben trug, nicht Vermithrax.
    » Merle! Der Falke!«
    Der Ruf der Fließenden Königin schnitt durch ihre Gedanken wie ein Beil. Er hätte sie zusammenzucken lassen, hätten sich nicht all ihre Muskeln längst zu harten Knoten verkrampft.
    Sie blickte auf und sah gerade noch, wie der Falke einen sanften Bogen nach außen flog, weg vom Turm, sich dabei drehte und dann, genau waagerecht, in einer der Fensteröffnungen verschwand.
    Vermithrax reagierte sofort, wenn auch ein ganzes Stück behäbiger. Er löste sich aus der Nähe der Turmwand, drehte sich in einer weiten Spirale und folgte dem Vogel ins Innere. Seine Schwingen waren zu breit, und er musste auf dem Fenstersims zwischenlanden.
    »Zieht die Köpfe ein!«
    Er quetschte sich durch die Öffnung, während Merle und Junipa sich so dicht wie möglich an ihn pressten, um sich nicht die Schädel einzuschlagen. Schließlich aber waren sie hindurch, und sofort erfüllte der strahlende Körper des Löwen die Finsternis des Turms mit Helligkeit.
    Es war eine Treppe, das hatte Merle schon von außen richtig erkannt. Sie war breit genug, um einer Armee Platz zu bieten, und aufgrund der Dreiecksform des Turms sogar noch verwinkelter, als sie vermutet hatte. Die Stufen waren unterschiedlich hoch, manche verliefen schräg, andere gar geschwungen. Sie waren nicht für Menschen geschaffen, sondern für etwas, das längere und mehr Beine hatte. Die Wände waren mit seltsamen Zeichen bedeckt, mit Strichen und Kreisen und Schleifen.
    »Das sind keine Zeichen«, sagte die Fließende Königin, als Vermithrax abermals abhob und nun über die Stufen hinweg bergan flog, ein Schwindel erregender Aufstieg, der Merle fast den Magen umdrehte. Auf und ab, in einer weiten Linkskurve, immer wieder unterbrochen von waghalsigen Manövern, wenn hinter einem Winkel unvermutet eine der Wände auftauchte und Vermithrax nur haarscharf einem Zusammenstoß entging.
    »Wie meinst du das, keine Zeichen?«, fragte Merle.
    »Das sind Spuren.«
    »Sie sind an den Wänden entlanggelaufen?« Sie dachte an die Widerhaken an den Beinen von Spinnen, erinnerte sich an die Lilim in der Halle der Herolde und schauderte. »Wie alt ist dieser Turm?«
    »Sehr alt. Er stammt aus einer Zeit, als die Herren der Tiefe im Krieg mit den Subozeanischen Reichen lagen.«
    »Es wird Zeit, dass du mir davon erzählst.«
    »Jetzt?«
    »Nein.« Merle zog den Kopf zwischen die Schultern, als Vermithrax der Decke bedenklich nahe kam. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Aber irgendwann wirst du nicht mehr drum herumkommen.«
    Die Königin verstummte wieder, doch Merle erkannte den Grund erst einen Augenblick später. Hinter ihnen war Lärm laut geworden, als Burbridge und seine Lilim ihnen durch den Treppenschacht folgten. Das Summen der Insektenflügel und das träge Rauschen ledriger Schwingen hallte von den Wänden wider
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher