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Die Masken von San Marco

Die Masken von San Marco

Titel: Die Masken von San Marco
Autoren: Nicolas Remin
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lassen.»
    «Dann wird dieser Besuch für Spaur zu einer Enttäu schung werden», sagte Bossi. «Es werden sich höchstens ein paar Leute die Tricolore ins Knopfloch stecken. Das alles lässt sich ohnehin nicht aufhalten.» Das alles war die Einheit Italiens, mit der Bossi, wie die meisten Venezianer, stark sympathisierte.
    Tron, der Bossis Begeisterung für einen Anschluss des Veneto an Turin nicht teilte, seufzte. «Ist meine Gondel unten?»
    «Sie wartet bereits, Commissario.» Bossi bückte sich nach den Kästen mit der Kamera und den Gelatine-Trockenplatten und sah Tron verlegen an. «Könnten Sie vielleicht …?»
    Einen Moment lang verstand Tron nicht, was Bossi von ihm wollte. Dann begriff er. Bossi wollte, dass er das Stativ trug. Also nahm Tron das Stativ, fischte im Vorübergehen seinen Zylinderhut vom Kleiderständer und hielt Bossi, der keine Hand frei hatte, die Tür auf.

    Merkwürdig, dachte Tron, als er eine halbe Stunde später zusammen mit Bossi an den Fondamenta Nuove aus der Gondel stieg – merkwürdig, dass ihn der Anblick einer Leiche immer noch in eine unprofessionelle Erregung versetzte.
    Er merkte es an der leichten Beschleunigung seines Herzschlags und dem Schweißausbruch auf Stirn und Nacken, was ihn jedes Mal nötigte, seinen Zylinderhut abzunehmen.

    Dabei bot der Tote, der an der Kaimauer in einer Pfütze aus brackigem Lagunenwasser lag, keinen besonders grausamen Anblick. Er hatte die Augen geschlossen, sein Kopf war zur Seite geneigt. Über seine Stirn zog sich eine fingerlange Schürfwunde, die eher an einen harmlosen Sturz als an ein Verbrechen denken ließ. Das Wasser hatte die Haut an Gesicht und Händen aufgeweicht, aber der Mann sah nicht aus, als hätte sein Körper tagelang in der Lagune getrieben.
    Eine kleine Menschenmenge hatte sich in einigem Ab stand um den Toten versammelt und stellte sich vermutlich, wie der Chor in der griechischen Tragödie, die Frage nach den Umständen der Tat:
    Ach, wer kündet es wohl? Sagt es ein Fischer mir, der schlaflos am Gestad emsig den Fang betreibt?

    Die Handlung des Schauspiels, das hier so unverhofft geboten wurde, schleppte sich allerdings ein wenig dahin. Sie gewann auch nicht an Fahrt, als Bossi damit begann, den Toten aus allen möglichen Perspektiven abzulichten. Fotografen, deren Oberkörper bei jeder Aufnahme unter einem schwarzen Samttuch verschwanden, kannten die Leute von der Piazza.
    Das Bühnenbild aber war beeindruckend. Vor der Kaimauer erstreckte sich die westliche Lagune mit den Inseln San Michele und Murano; am fernen Horizont, wie mit einer scharfen Schere ausgeschnitten und auf blauen Karton geklebt, waren die schartigen Berggipfel der Prealpi zu erkennen. Nicht unbedingt ein passender Tag, dachte Tron seufzend, um sich mit einem Verbrechen zu befassen. Falls es sich denn überhaupt um eines handelte.

    Dr. Lionardos Gondel tauchte auf, als Bossi bereits damit beschäftigt war, seine Ausrüstung wieder in ihre Behältnisse zu verstauen. Der medico legale trug seinen üblichen schwarzen Radmantel, dazu einen abgewetzten Zylinderhut, der in der Sonne glänzte, als wäre er lackiert. Er schien eine anstrengende Nacht hinter sich zu haben. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und er unterdrückte ein Gähnen, als er aus der Gondel stieg. Tron musste plötzlich daran denken, dass er in all den Jahren ihrer Zusammenarbeit nie ein privates Gespräch mit Dr. Lionardo geführt hatte. War der dottore verheiratet? Hatte er Kinder? Oder war er ledig?
    Tron wusste es nicht. Aber er schätzte Dr. Lionardo wegen seiner schnellen, professionellen Art zu arbeiten. Und er mochte die fast zeremonielle Behutsamkeit, mit der er die Toten behandelte, so als wären sie noch am Leben und hätten Gefühle und Wahrnehmungen.
    Nachdem der dottore seine Untersuchung beendet hatte, erhob er sich und streckte Tron wortlos einen durchweichten Zettel entgegen. Vorsichtig faltete Tron das nasse Stück Papier auseinander. Als er die Buchstaben auf dem Papier entziffert hatte, hielt er überrascht inne. Es handelte sich um ein Eisenbahnbillett erster Klasse, gestern ausgestellt für den Zehn-Uhr-Zug von Verona nach Venedig. Allerdings war es merkwürdig, dass der Mann, falls er tatsächlich den Zug von Verona nach Venedig benutzt hatte, weder Geld noch irgendwelche anderen Papiere mit sich führte. War er ausgeraubt und getötet worden? Hatte der Mörder seine Leiche anschließend in die Lagune geworfen? Oder hatte Dr. Lionardo etwas übersehen?
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