Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
Vom Netzwerk:
Zeiten, wenn meine Stimmung gedrückt ist. »Tja«, sagte ich, »derjenige, dem er gedient hat, ließ ihn zum Lohn für seine Mühen aufhängen.«
       »Er wurde seiner Verbrechen wegen gehängt – und um zu verhindern, daß er etwas ausplauderte. Und nicht der hat ihn aufgeknüpft, dem er diente. Der, dem er diente, lag bereits im Sterben.«
       Für einen Augenblick, während wir im ungewissen Licht eines nunmehr wolkenverhangenen Mondes dahinritten, dachte ich an jenen letzten, von einer seltsamen Macht getriebenen Chor unserer Schauspieltruppe zurück, der im ›Wahren Spiel von Thomas Wells‹ die Verse gesprochen hatte: Er war Beichtvater des Barons, er diente dem edlen Herrn … »Natürlich«, sagte ich. »Jetzt verstehe ich. Es war der junge Herr, der Sohn. Gewiß, Simon Damian war der Beichtvater des Barons, doch es war der Sohn, dem der Mönch zu Diensten war. Der Vater muß es irgendwie herausgefunden haben, oder er wußte es bereits, so, wie man gewisse Dinge irgendwie weiß, ohne daß man’s erklären könnte – Dinge, vor denen man lieber den Geist versperrt.«
       »Es könnte auch sein, daß der junge Mann seine Taten gestand, als er erkannte, daß er dem Tod geweiht war«, sagte der Richter. »William de Guise, Liebling der Damen, einziger Sohn des Hauses, Blüte des Rittertums.«
       »Deshalb blieb er in seinem Gemach. Deshalb hat er nicht am Turnier teilgenommen.«
       »Wißt Ihr«, sagte der Richter, »es gab zwei Dinge, durch die Thomas Wells sich von den anderen Opfern unterschied: Er trug eine Geldbörse bei sich, und er hatte sich vor kurzem mit der Pest angesteckt. Vielleicht fühlte er sich schon krank und hat am Wegesrand Rast gemacht; deshalb war er noch auf der Straße, als sich bereits die Dunkelheit niedersenkte. Der Mönch wußte von der Geldbörse. Doch niemand wußte von den Pestmalen, ehe nicht William de Guise, der ganze Stolz seines Vaters, dem Knaben das Genick gebrochen hatte. Und nachdem seine Wollust erst gestillt war, hat er die Male vermutlich entdeckt. Und kaum wußte er davon, hat er den Knaben nicht mehr angerührt. Niemand rührte ihn mehr an. Deshalb lag er die ganze Nacht dort. Dann hatte Simon Damian eine Idee. Er wartete so lange, wie er nur konnte. Denn zwölf Stunden nach Eintritt des Todes ist die Krankheit immer noch ansteckend; das zumindest glauben die Leute, wenngleich ich Ärzte einen längeren Zeitraum hab’ nennen hören. Jedenfalls ging es darum, den Leichnam wieder zu bekleiden und ihn vor Anbruch der Morgendämmerung dort an den Straßenrand zu legen – der Mönch durfte es nicht riskieren, gesehen zu werden. Das alles war mir bis heute abend unklar – bis Ihr mir von dem Pestgeruch in den Privatgemächern der Burg erzählt habt.«
       Danach ritten wir eine Zeitlang schweigend unseres Weges. Ich dachte daran, wie tief der Mönch den Weber gehaßt haben mußte, daß er ein solches Wagnis eingegangen war: nicht nur den Zorn seines Herrn, sondern auch den Pesthauch der Krankheit. Aber er mußte natürlich gewußt haben, daß es mit seiner Rolle als Kuppler vorbei war. Vielleicht hatte er nach einer anderen Rolle gesucht. Dem, dessen schändliche Gelüste er befriedigt hatte und dem er am Ende die Pest und den Tod brachte, konnte keine Rolle mehr zuteil werden – und keine Maske, die schrecklicher gewesen wäre als sein eigenes Gesicht.
       »Jetzt ist er bloß noch ein übler Geruch«, sagte der Richter, als würde er die Richtung meiner Gedanken erahnen. »Niemand überlebt länger als sechs Tage, sobald die ersten Anzeichen der Krankheit aufgetreten sind. Es ist jetzt sechs Tage her, daß der Mönch sich mit dem toten Knaben auf den Weg machte. Es muß genau um diese Zeit am Morgen gewesen sein. Schaut nur, bald wird es hell.«
       Vor uns, über den Dächern und Kaminen der Stadt, sah man die ersten fahlen Streifen eines neuen Tages. Wir gelangten nun zu der Straße, wo sich das Gefängnis befand. Eine Frage blieb, die meine Seele zutiefst peinigte. Ich erinnerte mich an Stephens Worte und die Geste eines Redners, die er vollführt hatte, als er betrunken im Schuppen saß, die langen Beine ausgestreckt. Davor nichts dergleichen …
       »Warum erst jetzt, in diesen letzten Monaten?« fragte ich. »Warum nicht schon vorher? Welche Höllengestalt könnte den jungen Herrn heimgesucht haben, als er bereits zum Mann gereift war?«
       Der Richter blickte auf mich hinunter. Sein Gesicht lag im tiefen Schatten der Kapuze, die er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher