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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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selbst die Sache für wichtig hielt, sondern weil der Richter ein so offenkundiges Interesse daran zeigte. Da waren der kurze Gang gewesen und die Tür, die sich plötzlich geöffnet hatte, und die verschleierte Nonne mit den weißen Tüchern auf den Ärmeln ihres Ordensgewandes – und der Geruch von Tod-im-Leben, der uns gefolgt war. »Es war bloß der flüchtige Eindruck eines Augenblicks, als wir an der Kammer vor-übergingen«, sagte ich. »Doch wer sich auch darin befand, war nicht tot; irgendwie hat man sich noch um ihn gekümmert. «
       Der Richter schwieg für kurze Zeit. Dann nickte er leicht, mit scheinbarer Gleichgültigkeit, und schaute zur Seite. »Ja, ich verstehe«, sagte er. »Stell dir nur vor, Thomas. Dieser Schauspieler, der aus dem Nirgendwo kommt, setzt sich die Maske der Superbia auf und hält dem Baron in dessen eigenem Gemach den Spiegel vor. Sir Richard de Guise, einem der mächtigsten Barone nördlich des Humber, dessen Ländereien von hier aus bis Whitby reichen; ein Mann, der seine eigene Gerichtsbarkeit ausübt, nicht die des Königs, der sein eigenes Heer unterhält, der sein eigenes Gericht und sein eigenes Gefängnis hat.«
       »Der Mann muß verrückt sein«, sagte der Schreiber.
       »Verrückt nennst du das?« Der Richter schaute wieder mich an. »Ich dachte bisher immer, die Liebe würde einen Mann dazu bewegen, sein Leben möglichst zu bewahren, statt es fortzuwerfen.«
       »Martin ist ein Mann der Gegensätze«, sagte ich. »Außerdem hatte er die Hoffnung verloren, das Mädchen könnte gerettet werden. Er wußte ja nicht …« Hier mußte ich eine Pause machen und um Fassung ringen, als Tränen der Dankbarkeit mich zu überwältigen drohten. »Keiner von uns wußte, daß Ihr gekommen wart, des Königs Recht zu sprechen und dieses Ungemach aus der Welt zu schaffen.«
       Jetzt waren des Richters Augen fest auf mich geheftet, die Lider jedoch schmal, als würde er mich mit einem prüfenden Blick mustern, der teils erheitert, teils ungläubig wirkte. »Des Königs Recht?« sagte er. »Wißt Ihr denn, was das ist, des Königs Recht? Glaubt Ihr etwa, ich würde stehen und liegen lassen, was ich für seine Majestät in York zu erledigen habe, nur um bei einem solchen Wetter diese elendig langen Meilen bis zu diesem jämmerlichen Wirtshaus zu reisen, in dem mir ein Fraß vorgesetzt wird, der nicht mal für den Schweinetrog taugt? Und das alles eines toten Leibeigenen und einer taubstummen Ziegenhirtin wegen?«
       »Gibt es denn einen anderen Grund für Euer Kommen? Ich dachte …« »Ihr habt wohl geglaubt, ich wäre einer von Eurer Theatertruppe, einer von den Schauspielern, der sich ein wenig verspätet hat und nun erschienen ist, sich in Eurem ›Wahren Spiel von Thomas Wells‹ die Maske der Justitia aufzusetzen. Der Mönch und der Baron und der Weber und der Ritter. Und nun noch der Richter, der zum Schluß wieder für Ordnung sorgt. Aber ich spiele in einem anderen Stück. Wie, habt Ihr gesagt, lautet Euer Name?«
       »Nicholas Barber.«
       »Wie alt seid Ihr, Nicholas?«
       »Dies ist mein dreiundzwanzigster Winter, Herr«, sagte ich. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte mich für einen Augenblick; dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe keine Söhne, nur Töchter«, sagte er. »Doch hätte ich einen Sohn wie Euch, dann wäre ich besorgt, daß die Einfalt seines Gemüts ihn zur Dummheit verführt und von dort ins Verderben stürzt. Und eine Dummheit habt Ihr schon begangen, nicht wahr? Ihr habt Eure Diözese ohne Erlaubnis Eurer Oberen verlassen; Ihr habt Euch einer Truppe von Schauspielern angeschlossen.«
       »Ja«, sagte ich, »das stimmt.«
       »Was hat Euch dazu getrieben?« Er betrachtete mich immer noch sehr aufmerksam, jetzt allerdings mit einem Ausdruck schlichter Neugier, was irgendwie beunruhigender auf mich wirkte als die verächtliche Ungläubigkeit, die er zuvor gezeigt hatte. »Ihr hattet eine gehobene Stellung«, sagte er. »Ihr seid ein gelehrter Mann. Ihr hättet auf ein Weiterkommen hoffen dürfen.«
       »Ich bin – oder war – einer der Subdiakone an der Kathedrale von Lincoln«, sagte ich. »Man hatte mir die Aufgabe übertragen, für einen Gönner den Homer des Pilato zu transkribieren, ein überaus langweiliges und weitschweifiges Werk. Es war der Monat Mai, und draußen vor meinem Fenster zwitscherten die Vögel, und der Weißdorn stand in Blüte.«
       »So einfach ist die Erklärung?« Er warf
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