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Die Masken der Niedertracht

Die Masken der Niedertracht

Titel: Die Masken der Niedertracht
Autoren: Marie-France Hirigoyen
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Scham darüber hinterlassen, an der Nase herumgeführt worden zu sein; aber es gibt auch viel schwerwiegendere Manipulationen, die an die Identität des Opfers rühren und wobei es um Leben und Tod geht. Man muß wissen, daß die Perversen unmittelbar gefährlich sind für ihre Opfer, aber auch mittelbar für die Umgebung, da sie dazu verleiten, Orientierungsmaßstäbe aufzugeben und zu glauben, man könne alles auch «lockerer» sehen – selbst wenn andere dabei auf der Strecke bleiben.
     
    Ich werde in diesem Buch die Natur der Perversion nicht theoretisch diskutieren, sondern mich ganz bewußt, als Viktimologin, der angegriffenen Person zur Seite stellen. Die Viktimologie ist eine junge Disziplin, entstanden in den Vereinigten Staaten, und war zunächst nur ein Zweig der Kriminologie. Sie analysiert die Gründe, die jemanden zum Opfer werden lassen; die Verläufe der Viktimisierung; die Folgen, die sich daraus ergeben; und die Rechte, die daraus erwachsen. In Frankreich existiert eine Viktimologen-Ausbildung seit 1994, die zu einem Universitätsdiplom führt. Dieser Ausbildungsgang richtet sich an Notärzte, an Psychiater und Psychotherapeuten, an Juristen sowie an alle, zu deren Berufspflichten es gehört, den Opfern zu helfen. Eine Person, der seelische Gewalt widerfuhr, ist wirklich ein Opfer, da ihre seelische Struktur mehr oder weniger dauerhaft zerrüttet ist. Selbst da, wo ihre Art, auf die seelische Aggression zu reagieren, dazu beitragen kann, mit dem Aggressor eine Beziehung aufzubauen, die sich aus sich selbst erhält, und den Eindruck zu vermitteln, «symmetrisch» zu sein, darf man nicht vergessen, daß diese Person unter einer Situation leidet, für die sie nicht verantwortlich ist. Wenn es geschieht, daß die Opfer dieser schleichenden Gewalttätigkeit sich für eine individuelle Psychotherapie entscheiden, dann tun sie das eher wegen intellektueller Hemmungen, Mangel an Selbstvertrauen, an Durchsetzungsvermögen, oder wegen eines anhaltenden depressiven Zustandes, der sich resistent zeigt gegen Antidepressiva, oder sogar wegen eines offeneren depressiven Zustands, der zu Selbstmord führen kann. Wenn diese Opfer sich mitunter auch über ihre Partner oder ihre Umgebung beklagen, so sind sie sich selten der Existenz dieser furchtbaren geheimen Gewalt bewußt und wagen daher auch selten sich zu beschweren. Die psychische Verwirrung, die sich schon eingenistet hat, kann selbst den Psychotherapeuten vergessen lassen, daß es sich um eine Situation objektiver Gewalt handelt. Diesen Situationen ist das Moment der Unaussprechbarkeit gemeinsam:
    Das Opfer, obwohl es sein Leiden eingesteht, wagt nicht, sich wirklich vorzustellen, daß Gewalttätigkeit und Aggression stattgefunden haben. Bisweilen bleibt ein Zweifel: «Bin nicht vielleicht ich es, der das alles erfindet, wie so manche mir nahelegen?» Wenn es wagt, sich über das, was geschieht, zu beschweren, hat es das Gefühl, es nur unvollkommen zu beschreiben und deshalb nicht verstanden zu werden.
    Ich habe mich mit Bedacht dafür entschieden, die Begriffe «Angreifer» und «Angegriffener» zu gebrauchen; denn es handelt sich erwiesenermaßen um eine Gewalttat, selbst wenn sie im Verborgenen verübt wird. Sie zielt darauf ab, sich an die Identität des anderen heranzumachen und ihn jeder Individualität zu berauben. Es geht um einen wirklichen Prozeß seelischer Zerstörung, der zu Geisteskrankheit oder Selbstmord führen kann. Ich werde auch an der Bezeichnung «pervers» festhalten, weil sie deutlich hinweist auf den Begriff des Mißbrauchs, welcher bei allen Perversen im Spiel ist. Das beginnt bei einem Machtmißbrauch, setzt sich fort in einem narzißtischen Mißbrauch in dem Sinne, daß der andere alle Selbstachtung verliert, und kann manchmal sogar zu sexuellem Mißbrauch führen.
     
     
     
     

I.
Die perverse Gewalt im Alltag
     
     
    Kleine perverse Handlungen sind so alltäglich, daß sie die Regel zu sein scheinen. Das beginnt mit einem einfachen Mangel an Respekt, mit Lüge oder Manipulation. Unerträglich finden wir das nur, wenn wir direkt betroffen sind. Falls die soziale Gruppe, in der dieses Verhalten sich zeigt, keinen Widerstand leistet, verwandelt es sich fortschreitend in unverhüllt perverse Verhaltensweisen, die schwere Folgen für die psychische Gesundheit der Opfer haben. Da sie nicht sicher sind, verstanden zu werden, schweigen die Opfer und leiden stumm.
    Diese seelische Zerstörung gibt es seit jeher, in den Familien, wo
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