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Die Masken der Niedertracht

Die Masken der Niedertracht

Titel: Die Masken der Niedertracht
Autoren: Marie-France Hirigoyen
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ihn sogar zugrunde zu richten, ohne daß die Umgebung eingreift. Der oder die Angreifer «kommen groß raus», indem sie die anderen herabsetzen und gleichzeitig sich jeden inneren Konflikt oder jegliche Gemütsbewegung ersparen, indem sie dem anderen die Verantwortung zuschieben für das, was nicht klappt: «Nicht ich, der andere ist verantwortlich für das Problem!» Keine Schuld, kein Leid. Es handelt sich hier um Perversität im Sinne der seelischen Perversionen.
    Jeder von uns mag ab und zu in dieser Weise «pervers» handeln. Zerstörerisch wird der Prozeß aber erst durch Häufigkeit und Wiederholung. Jedes «normal neurotische» Individuum legt bei gewissen Anlässen, zum Beispiel in einem Anfall von Zorn, perverse Verhaltensweisen an den Tag, ist aber auch imstande, zu anderen Verhaltensmustern überzuwechseln (hysterischen, phobischen, zwanghaften...), doch nach derlei perversen Anwandlungen fragt es sich erschrocken, was es da getan habe. Ein perverses Individuum ist beständig pervers; es ist fixiert auf diese Form der Beziehung zum anderen und stellt sich in keinem Augenblick in Frage. Selbst wenn seine Perversität eine gewisse Zeit unbemerkt bleibt, wird sie immer dann zutage treten, wo es Stellung zu beziehen und seinen Teil Verantwortung anzuerkennen gilt; denn es ist ihm unmöglich, sich in Frage zu stellen. Diese Personen können nicht anders leben, sie müssen den anderen «zerstören». Sie müssen ihn herabwürdigen, um Achtung vor sich selbst zu gewinnen und dadurch Macht; denn sie gieren nach Bewunderung und Anerkennung. Sie empfinden weder Mitgefühl noch Anerkennung für den anderen, da Beziehungen sie ja nicht berühren. Den anderen respektieren bedeutet, ihn als menschliches Wesen zu betrachten und den Schmerz zu erkennen, den man ihm zufügt.
    Die Perversion fasziniert, verführt und macht angst. Manchmal beneidet man die Perversen, weil man ihnen eine Überlegenheit zuspricht, die es ihnen erlaubt, stets Sieger zu sein. In der Tat verstehen sie es, ganz unauffällig zu manipulieren, was ein Trumpf zu sein scheint in der Welt der Geschäfte oder der Politik. Gleichzeitig fürchtet man sie, weil man instinktiv weiß, daß es besser ist, mit ihnen zu sein als gegen sie. Das ist das Gesetz des Stärkeren. Am meisten bewundert wird der, der es versteht, das Leben zu genießen und sowenig wie möglich zu leiden. Von den Opfern dieser Menschen redet man kaum, sie gelten als Schwächlinge oder Versager, und der Vorwand, die Freiheit des anderen zu achten, kann blind machen gegenüber schlimmen Situationen. Denn eine der heute herrschenden Auffassungen von Toleranz besteht darin zu unterlassen, sich in Handlungen und Ansichten anderer einzumischen, selbst dann, wenn diese Ansichten und Handlungen uns unpassend oder sogar moralisch tadelnswert erscheinen. Desgleichen üben wir beispiellose Nachsicht gegenüber den Lügen und Manipulationen der «Mächtigen». Der Zweck heiligt die Mittel. Aber bis zu welcher Grenze ist das hinnehmbar? Laufen wir auf diese Weise nicht Gefahr, uns selbst – aus Gleichgültigkeit – als Komplizen wiederzufinden und unsere Grenzen und Prinzipien zu verlieren? Toleranz setzt eindeutig definierte Grenzen voraus. Nun besteht dieser Typus von Aggression aber gerade in einem Übergriff auf den psychischen Bereich des anderen. Der gegenwärtige sozio-kulturelle Kontext gestattet der Perversion, sich zu entfalten, weil sie dort toleriert wird. Unsere Epoche verweigert das Aufstellen von Normen. Eine Schranke aufzurichten, indem man eine Manipulation pervers nennt, wird mit «Zensur» gleichgesetzt. Wir haben die moralischen und religiösen Grenzen verloren, die eine Art Sittenkodex darstellten und die uns veranlassen konnten zu sagen: «Das tut man nicht!» Wir finden unsere Fähigkeit, uns zu entrüsten, erst wieder, wenn die Vorfälle sich auf der öffentlichen Bühne abspielen, aufgegriffen und ausgewalzt von den Medien. Die Staatsgewalt setzt keinen Rahmen und wälzt ihre Verantwortung ab auf diejenigen, die sie eigentlich zu führen oder zu unterstützen hätte.
    Selbst die Psychiater zögern, die Perversion beim Namen zu nennen. Wenn sie es tun, so entweder, um ihre Ohnmacht einzugestehen, etwas dagegen zu unternehmen; oder aber, um ihre Neugier gegenüber der Geschicklichkeit des Manipulateurs erkennen zu lassen. Sogar die Definition «seelische Perversion» wird von einigen zurückgewiesen, die lieber von Psychopathie sprechen, eine geräumige Rumpelkammer, in die
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