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Die Masken der Niedertracht

Die Masken der Niedertracht

Titel: Die Masken der Niedertracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-France Hirigoyen
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«Fräulein X, Sie sind im Beruf X tätig, wie interessant!», läßt sie aber schnell alleine stehen. Als sie daraufhin eine Erklärung von ihm verlangt, stammelt er, er sei eben sehr beschäftigt.
    Er macht ihr Vorhaltungen über das Geld, das sie ausgibt, obgleich sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Ihm wäre am liebsten, daß sie fast nichts in ihren Schränken hätte und er zwingt sie, ihre Hausschuhe aufzuräumen, wie ein kleines Mädchen. Er macht sich öffentlich lustig über ihre Cremetöpfchen im Badezimmer: «Ich verstehe nicht, warum Du Dir all dieses Zeug ins Gesicht schmierst!»
    A nnie fragt sich, wieso sie zärtlich sein kann zu einem Mann, der alles berechnet: seine Gesten, seine Worte, sein Geld. Er erträgt es nicht, wenn man vom Paar spricht. «Das Wort Paar stammt aus der Mottenkiste.» Er weigert sich, sich ihr gegenüber zu binden. Eines Tages hält ein Clown sie auf der Straße an, will ihnen ein Kunststück zeigen, und sagt zu Benjamin: «Das ist Ihre Frau, nicht wahr?» Benjamin antwortet nichts und versucht, sich zu verdrücken. Für Annie bedeutet das: «Er konnte nichts erwidern, weil man dazu keine Meinung haben kann. Ich bin weder seine Frau, noch seine Verlobte, noch seine Freundin. Man kann nichts sagen zu diesem Thema, weil es zu ernsthaft ist.»
    Wenn sie darauf besteht, über ihre Beziehung zu sprechen, antwortet er: «Meinst Du wirklich, es ist der richtige Moment, darüber zu reden?»
    Auch andere Themen enden in Verletzungen, wie z. B. ihr Kinderwunsch. Wenn sie Freunde treffen, die Kinder haben, bemüht sie sich, nicht zuviel Begeisterung angesichts der Babys zu zeigen, was sonst Benjamin auf den Gedanken bringen könnte, sie wünsche sich ein Kind. Statt dessen nimmt sie eine neutrale Haltung ein, als bedeute ihr das nichts.
    Benjamin möchte Annie beherrschen. Sie soll eine unabhängige Frau sein, die finanziell nicht auf ihn zählt; aber gleichzeitig möchte er sie unterwürfig, andernfalls ängstigt er sich und weist sie ab.
    Wenn sie bei Essenseinladungen redet, verdreht er mißbilligend die Augen gen Himmel. Anfangs sagte sie sich: «Das ist sicher Blödsinn, was ich gesagt habet» und in zunehmendem Maße hat sie sich kontrolliert.
    Trotzdem hat sie seit Beginn ihrer Psychotherapie gelernt, nicht mehr hinzunehmen, daß er a priori alles kritisiert, was sie sagt – auch wenn das zu Spannungen führt.
    Zwischen ihnen gibt es keine Aussprachen, nur Streit, wenn sie genug hat, wenn ein Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt. Dann regt nur sie allein sich auf Benjamin setzt eine erstaunte Miene auf und sagt: «Du willst mir schon wieder Vorwürfe machen. Klar, für Dich bin ich an allem Schuld!» Sie sucht sich zu rechtfertigen: «Ich sage nicht, daß Du Schuld hast, ich hätte nur gern, daß wir über das reden, was nicht klappt!» Er scheint nicht zu verstehen und schafft es immer, Selbstzweifel in ihr aufkommen zu lassen und sie dahin zu bringen, sich Schuldgefühle einzureden. Sich zu fragen, was zwischen ihnen nicht stimmt, bedeutet für ihn: «Das ist Deine Schuld.» Er will sie nicht anhören und beendet die Diskussion; oder vielmehr, er versucht, ihr mit einer Pirouette zu entkommen, noch bevor sie begonnen hat.
    «Wenn er mir doch nur sagte, was ihm an mir mißfällt; das würde eine Diskussion ermöglichen.»
    Nach und nach haben sie aufgehört, über Politik zu sprechen; denn wenn sie Schlußfolgerungen zog, beklagte er sich, daß sie nicht seiner Meinung sei. Ebenso hörten sie auf, über Annies berufliche Erfolge zu sprechen. Benjamin ertrug alles schlecht, was ihn in den Schatten stellen konnte.
    Annie ist sich bewußt, auf ihr eigenes Denken verzichtet zu haben, auf ihre Individualität, weil sie fürchtet, daß es sonst nur noch schlimmer würde. Das führt dazu, daß sie ständig Anstrengungen unternimmt, damit der Alltag erträglich bleibt.
    Ab und zu widersetzt sie sich und droht zu gehen. Er hält sie zurück mit einer zweifachen Begründung. «Ich möchte, daß unsere Beziehung weitergeht. Ich kann Dir im Augenblick nicht mehr geben.»
    Ihre Erwartungen sind dermaßen auf ihn gerichtet, daß sie beim geringsten Zeichen einer Annäherung wieder Hoffnung schöpft.
    Annie spürt sehr wohl, daß diese Beziehung nicht normal ist. Aber da sie jede Orientierung verloren hat, fühlt sie sich verpflichtet, Benjamin zu schützen und zu entschuldigen, egal, was er tut. Sie weiß, daß er sich nicht ändern wird: «Entweder ich passe mich an, oder ich

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