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Die Maske

Die Maske

Titel: Die Maske
Autoren: Siegfried Lenz
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pathetisch stellte er fest: „Wir
geben den Schiffen die Kraft, durch die Meere zu gleiten, wir lassen sie in der
Welt ankommen, wo man sie erwartet.“ Off mußte Sven nachfragen, ehe er sicher
war, daß Koschnik in einer Kleingartenkolonie wohnte, in einem Holzhaus, mit
Sonnenblumen vor dem Fenster, mit Kindern, die im Garten spielten.
    Kinder kamen ihm entgegengelaufen, als er Koschnik
durch das Gartentor bugsierte, die Kinder hüpften und jubelten, sie zupften
den schwankenden Mann an der Jacke, das älteste Mädchen probierte eine
Umarmung. Sven beobachtete, wie das Mädchen während der Umarmung eine Hand in
die Brusttasche des Mannes schob und seine Geldbörse herauszog, die es gleich
unter seinem Kleid verbarg und danach, als sie im Haus waren, ohne ein Wort der
Frau gab. Die Frau war freundlich zu Sven, sie dankte ihm und lud ihn zu einem
Glas Apfelsaft ein, und als er ging, schenkte sie ihm zwei Euros - die einzigen
Münzen, die sie in der Geldbörse fand. Die Kinder begleiteten ihn bis zum
Gartentor, und dort gab er dem Mädchen einen Euro und schlug ihm vor, davon
Vanille-Eis zu kaufen, bei dem Mann mit der lustigen weißen Mütze. Als Anja
das hörte, lächelte sie und sagte: „Das kann ich mir vorstellen, so war Sven.“
    „Unser Sven“, ergänzte Haller und glaubte, bevor er
in seinem Schulheft weiterlas, erklären zu müssen, daß ja kaum ein Leben
geradlinig verläuft, immer gibt es Ausschläge, Abweichungen, immer gibt es
Ereignisse und Stationen, die off keine Verbindung miteinander haben. „Hör
mir zu.“
    Sven hatte einen Freund, der als Bote bei einer Zeitung
arbeitete, beim Hamburger Kurier. Sie hatten dort keine Rohrpostanlage, und deshalb sorgten
Boten für eine Verbindung zwischen den einzelnen Redaktionen und der
Produktion, überbrachten Post und Manuskripte, hier und da sorgten sie auch
für frischen Kaffee. Das Einstellungsgespräch verlief so, wie Sven es erhofft
hatte, er wurde angenommen und unterschrieb den ersten Vertrag in seinem Leben.
Nach Redaktionsschluß, wenn man ihn weniger beanspruchte, saß er in der
Botenzentrale und las, er war der häufigste Benutzer der Hausbibliothek, und
der alte Redakteur, der die Bibliothek verwaltete, hatte seine Freude daran,
die Lektüre des jungen Mitarbeiters zu beeinflussen. Am liebsten las Sven
Kurzgeschichten, aber auch Interviews mit Schauspielern und Malern und
Schriftstellern, er las mit einem Bleistift in der Hand und unterstrich, was
ihm bemerkenswert erschien. Wenn man ihn zu dieser Zeit gefragt hätte, was er
einmal werden wollte, hätte er wohl arglos gesagt: Leser, am liebsten Leser.
Seine Leidenschaft für die Lektüre war so dauerhaft, sein Gedächtnis für
Inhalte, Konflikte und Lösungen so erstaunlich, daß ihn der
Feuilleton-Redakteur, vermutlich um sich selbst zu vergewissern, mitunter in
ein Gespräch zog. „Und Sven konnte immer Auskunft geben“, sagte Anja, und
Haller darauf: „Allmählich konnte er sich selbst wie ein wandelndes
Nachschlagewerk vorkommen. - Es geht weiter.“
    Auch die Zeit als Bote ging zu Ende. Als der Hamburger Kurier seine
jungen Leser einlud, sich an einem Preisausschreiben zu beteiligen, schnitt
Sven die Bekanntmachung aus der Zeitung aus und trug sie bei sich. Während
einer Hafenrundfahrt, allein auf dem Sonnendeck, las er die Bekanntmachung zum
wiederholten Mal und entschloß sich, an dem Preisausschreiben teilzunehmen. Die
Aufgabe, die gestellt wurde, schien ihm erfüllbar. Unter dem Titel „Ein
unvergessener Spaziergang in Hamburg“ erwartete die Jury einen Beitrag, der
sehr persönlich sein durfte und, wie sie sich ausdrückte, einen Blick in die
Wunderwelt der großen Stadt ermöglichen sollte. Es war ein Preisgeld von
fünfhundert Euro ausgesetzt, die Entscheidung der Jury galt als nicht
anfechtbar.
    Lange grübelte Sven nach, entsann sich einiger
kurzer Spaziergänge, die ihm wenig bedeuteten, er fand keinen, den er vor dem
Vergessen hätte bewahren wollen. In seiner Niedergeschlagenheit beschloß er,
auf einen abermaligen Spaziergang zu gehen, nur zu dem Zweck, zu sehen und zu
erfahren, was ihm geeignet erschien für seinen Beitrag.
    Er suchte nicht lange. Zufällig entdeckte er, daß
die Störtebekergasse für den Durchgangsverkehr ein ganzes Wochenende gesperrt
war, mit Rücksicht auf ein Ereignis, das viele Menschen zusammenführte: den
heimischen Flohmarkt. Sven machte sich auf den Weg, mit wachen Sinnen, mit der
Bereitschaff, alles aufzuzeichnen und zu bewahren, was sich
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