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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Autoren: Wsewolod Petrow
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»Vera, ich bin wahnsinnig vor Liebe zu Ihnen«, flüsterte ich ihr ins Ohr und stand sofort auf und zog mich in die andere Hälfte des Waggons zurück.
    Vera stand nicht auf.
    »Gehen Sie, Verotschka!« sagte ich.
    »Geben Sie mir Ihr Buch, und drehen Sie sich um!« antwortete Vera.
    Ich reichte ihr den »Werther«. Nach einer Minute gab sie mir das Buch zurück und ging auf ihre Pritsche.
    »Schauen Sie auf der letzten Seite nach«, sagte sie.
    Dort lag Veras neues Foto, auf der Rückseite beschriftet: »Das Schicksal wird entscheiden. Vera.«
    Ich setzte mich erneut ans Feuer, aufgewühlt von dem, was passiert war. Im Grunde war nichts passiert. Ich dachte daran, wie leer mein Dasein war, und daran, daß das Leben für sich allein genommen nichts ist, eine glatte gerade Linie, die in den Raum flieht, eine Fahrspur auf einem Schneefeld, ein verschwindendes Nichts. »Etwas« beginnt dort, wo die Linie andere Linien kreuzt, wo das Leben ein fremdes Leben betritt. Jede Existenz ist unbedeutend, wenn sie in niemandem und in nichts gespiegelt wird. Der Mensch existiert nicht, solange er sich nicht im Spiegel gesehen hat.
IX.  Unser Waggon stand auf einem Reservegleis inmitten anderer Waggons. Rechts wie links liefen endlose rote Korridore parallel; an manchen Stellen brachen sie ab und öffneten Übergänge. Und manchmal begann eine Wand sich langsam zu bewegen; dann kam hinter ihr ein abgezehrtes Feld mit Bahnhofshäuschen zum Vorschein. Irgendwann kam eine andere Wand, die der vorigen ganz genau glich, und verdeckte die Landschaft wieder.
    Zwischen den Waggons ging man spazieren. Man konnte sich dort sogar verlaufen, sich vermeintlich weit von seinem Waggon entfernen und sich auf einmal neben ihm wiederfinden.
    Ich stand beim allernächsten Übergang und sah, wie Aslamasjan unsere schwere Waggontür öffnete. Vera sprang heraus und ging an mir vorüber. Ich rief ihr zu. Sie lächelte.
    »Ich bin Sie suchen gegangen«, sagte Vera und reichte mir die Hand.
    »Vera, ich bin von Ihnen erfüllt«, sagte ich, »Sie haben alles aus mir verdrängt. Ich habe verlernt, an etwas anderes zu denken als an Sie.«
    Vera antwortete nicht und wandte sich ab.
    »Vera, wenn ich Sie ansehe, scheint mir, daß ich Sie nicht einmal sehe. Ich sehe irgendwie durch alles hindurch, als ob es durchsichtig geworden wäre, und sehe Sie überall«, sagte ich, nach Atem ringend.
    »Was soll denn daraus werden?« sagte Vera.
    Ich schwieg, weil ich völlig verwüstet war.
    »Warum haben Sie mir das gesagt? Jetzt wird mir das Herz wehtun«, sagte Vera. »Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Sie schon ein bißchen liebe, aber das ist überhaupt nicht wie das«, sagte Vera und ging eilig weg von mir.
    Ich stand auf dem Schnee und rang nach Luft wie ein Fisch.
    »Sie sind gleichsam verwandelt im Gesicht«, sagte mir Nina Aleksejewna, als ich in den Waggon zurückgekehrt war und auf die Pritsche kletterte.
    »Wieder Atemnot«, sagte ich.
    »Offenbar haben Sie sehr großes Mitleid mit dem jungen Werther«, sagte Nina Aleksejewna.
    »Heute ist ein Tag der Überraschungen«, sagte sie. »Sie kommen irgendwoher mit einem verzerrten Gesicht, und Vera wollte erst spazierengehen, wie immer, aber statt für den ganzen Tag zu verschwinden, kam sie sehr bald zurück und liegt nun ganz für sich und spricht mit niemandem. Haben Sie sie auf dem Spaziergang getroffen?«
    Ich wollte scherzen, aber es klappte nicht, ich lächelte schief und legte mich auf die Pritsche.
    »Sie haben wohl etwas Furchteinflößendes auf dem Weg gesehen«, sagte Nina Aleksejewna.
    Vera ließ sich den ganzen Tag fast nicht blicken. Gegen Abend begannen die Mädchen sich fürs Filmtheater fertig zu machen.
    »Laß uns gehen, Vera!« sagten sie.
    »Ich werde heute nicht gehen«, sagte Vera.
    »Wie?« schrien alle im Waggon gleichzeitig auf.
    »Ich fühle mich schlecht«, sagte Vera.
    »Was ist denn los?«
    »Mein Herz tut weh.«
    »Gerade so wie bei Ihnen, Atemnot mit Todesangst«, sagte Nina Aleksejewna, zu mir gewandt. »Also ich würde liebend gern ins Kino gehen, statt in diesem entsetzlichen Waggon zu sitzen.«
    »Gehen Sie unbedingt, Nina Aleksejewna«, sagte Vera.
    »Es ist doch wahrscheinlich weit und dunkel zu gehen.«
    »Überhaupt nicht weit, gleich hier, und danach werden Sie mir den Film erzählen, schließlich kann niemand besser als Sie erzählen«, bat Vera.
    »Nun, da Sie mich so sehr darum bitten, werde ich gehen müssen. Sie werden doch auch kommen?« wandte sich Nina
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