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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Autoren: Wsewolod Petrow
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zurück, dann nahm ich ihre Hand und küßte vorsichtig ihre Fingerspitzen. Ihr Gesichtsausdruck wurde so anders, daß mein Herz für eine Sekunde stehenblieb.
    »Ah, bitte nicht«, sagte Vera und riß die Hand weg.
    Ich schaute ins Feuer.
    »Ich zeige Ihnen jetzt eine Übung, wie wir sie im Theater gemacht haben«, sagte Vera hastig und suchte, nachdem sie einen unsichtbaren Handschuh abgestreift hatte, ein unsichtbares Loch auf ihm und begann, es mit einem unsichtbaren Faden zuzunähen.
    Ich sah Vera erst da zum ersten Mal wirklich. Sie hatte einen leicht dunklen Teint, kleine, dunkle, bisweilen grüne Augen, eine rätselhafte Ähnlichkeit mit Marie-Antoinette, geschwungene Lippen; ein entzückendes Gesicht, konturiert von einer reinen und fast schon abstrakten Linie. In ihrem Blick lagen Ungestüm und Raffinesse: ein Antlitz aus einem Gemälde von Watteau.
VII. Morgens hatte ich wieder Atemnot, aber ich hatte meine Todesangst so lange schon mit mir herumgeschleppt, daß sie vergangen war. Der Zug stand ohne Lok auf dem Reservegleis. Ich nahm den »Werther« aus meiner Feldtasche und streifte ein wenig umher. Als ich zurückkam, geriet ich mitten in einen Streit. Levit hampelte auf den Scheiten beim Ofen herum und schrie: »Ich werde nicht zulassen, daß so eine Hure ...« Das alles bezog sich auf Vera. Die Gören ringsherum schwiegen. Die Ärztinnen kochten Suppe. Die kleine Lariska krabbelte überall herum und störte. Vera schluchzte auf, wandte sich ab und begann bitterlich zu weinen.
    »Wie können Sie es wagen, so zu reden! Seien Sie sofort still!« schrie ich.
    Levit war fürchterlich erstaunt, weil er Widerstand am allerwenigsten von meiner Seite erwartet hatte.
    »Aber sie hat doch ...« fing er an zu erklären.
    »Ich wünsche keine Erklärungen«, sagte ich. »Es ist unwürdig, solche Sachen zu sagen.«
    Ich setzte mich entschlossen zum Ofen, um zu demonstrieren, daß ich zu weiterem Kampf bereit war. Im ganzen Waggon kehrte Stille ein in Erwartung eines nie dagewesenen Streits. Ich fühlte, daß ich imstande war, Levit zu töten. Vera hatte allen den Rücken zugewandt und schluchzte immer wieder leise auf.
    Levit murmelte etwas und stieg auf die Pritsche. Vera weinte eine Weile und beschloß dann zu gehen. Ich stand auf, immer noch aufgeregt, und half ihr sehr ernst und respektvoll in den Mantel.
    »Was machen Sie mit Vera? Sie ist fast ohnmächtig geworden. Ich denke, niemand auf der Welt hat ihr jemals in den Mantel geholfen«, sagte Nina Aleksejewna zu mir. »Eigentlich ist Vera eine ziemlich widerliche Göre, aber ich bin dennoch froh, daß Sie für sie eingetreten sind. Man darf doch nicht so ausfallend werden wie dieser Levit.«
    Vera kam erst gegen Abend wieder. Alles war schon vergessen. Sie kam fröhlich, lebendig, mit von der Kälte rosigen Wangen.
    »Ich habe mich photographieren lassen«, tat sie kund.
    Die Mädchen hatten gerade vor, auf irgendeine Tanzveranstaltung direkt auf der Station zu gehen. Vera geriet sofort in Eile, weil sie sich ihnen anschließen wollte.
    »Iß doch wenigstens etwas, du bist doch hungrig, warst den ganzen Tag sonstwo unterwegs«, sagte man ihr.
    »Keine Zeit, keine Zeit«, beeilte sich Vera und vergoß versehentlich ihr Mittagessen unter den Ofen.
    Nina Aleksejewna und ich lachten.
    »Verotschka, Sie sind einfach zauberhaft«, sagte ich.
VIII.  An dem Abend wartete ich nicht auf den Anfall und ging zum Ofen, sobald sich der Waggon beruhigt hatte. Vera tauchte auf und setzte sich neben mich.
    Sie war etwas verlegen wegen der Szene mit Levit. Sie saß ernst da, mit einer finsteren Miene, und blickte ins Feuer. Aber ich sah, daß sie überhaupt nicht betrübt war, sondern einfach gespannt, was weiter geschehen würde.
    »Denken Sie bloß nicht schlecht von mir«, sagte Vera.
    »Das ist alles dummes Zeug, Verotschka, denken Sie nicht mehr daran«, sagte ich und nahm sie behutsam bei der Hand. »Warum verschwinden Sie immer? Im Waggon ist es so leer, wenn Sie nicht da sind.«
    Oje, das hätte ich besser nicht sagen sollen,
dachte ich und nahm die Hand weg. Vera saß weiterhin grimmig da.
    »Warum reden Sie nie mit mir?« fragte Vera.
    »Ich glaube, jetzt haben wir uns schon angefreundet«, antwortete ich.
    »Was haben Sie da für ein Buch?« fragte Vera.
    Ich reichte ihr den »Werther«.
    »Etwas nicht auf russisch«, sagte Vera, »Sie sind wohl so ein gebildeter, kluger Mensch, lesen die ganze Zeit. Ich möchte Sie bitten: Helfen Sie mir, einen Brief zu
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