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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
Autoren: Wsewolod Petrow
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ist es gar nicht so. Aber Sie sehen doch selbst, daß Vera irgendwie besonders ist. Sie ähnelt überhaupt nicht den anderen Schwestern. Die sind kleine Spießbürgerinnen. Sie sind einfallslos. Alles bei ihnen ist fürchterlich alltäglich, all ihre Romanzen, Streitereien, Hoffnungen, alles, was ihr Leben ausmacht.«
    »Und Vera ist außergewöhnlich?«
    »Sie lachen nun darüber. Aber bei ihr liegt schon im Äußeren etwas Besonderes. Da sind gewisse Züge des achtzehnten Jahrhunderts. Sie ähnelt gleichzeitig Marie-Antoinette und Manon Lescaut«, sagte ich und drehte mich erneut Vera hinterher.
    »Das ist das, worüber Sie mit ihr auf Ihren Spaziergängen sprechen?« fragte Nina Aleksejewna.
    »Nein, warum auch? Sie hat Phantasie, Streben nach Ruhm; sie träumt davon, Schauspielerin zu werden. Ein mädchenhafter Romantizismus. Also reden wir eben darüber«, sagte ich.
    »Sie denken, daß niemand Sie sieht, aber jeder, absolut jeder begegnet Ihnen«, sagte Nina Aleksejewna.
    »Also sicher nicht absolut jeder«, sagte ich mit einem Lächeln.
    »Vera zeigt sich absichtlich mit Ihnen«, sagte Nina Aleksejewna, »damit Rosaj etwas eifersüchtig wird.«
    »Aber, mein Gott, was ist denn so schlimm daran! Ich sage Ihnen doch: Sie interessiert mich rein literarisch«, sagte ich.
    »Als ob das was mit Literatur zu tun hätte!« sagte Nina Aleksejewna.
    »Vera ist aus dem Stamm der flammenden Menschen, die außerhalb der Form leben«, antwortete ich.
    »Was denn für flammende Menschen?«
    »Ich glaube, das ist klar, wenn man von Genies spricht«, sagte ich. »Goethe, Mozart, Puschkin, das sind makellose Menschen, vollkommene Menschen. In ihnen wird alles durch die Form bestimmt. Das Los der Vollkommenheit ist, zu vollenden und Bilanz zu ziehen. Man sollte natürlich nicht glauben, daß sie nicht auch stürmisch sein können; aber bei ihnen verschmilzt selbst der Sturm irgendwie mit der Form und der Tradition. Shakespeare und Michelangelo dagegen lodern, mit Fehlschlägen und Abstürzen, aber sie zerreißen irgendwie die Form und brechen zur Zukunft durch. Das sind die unvollkommenen Genies, die über den vollkommenen stehen: Sie schaffen Vollkommenheit anderer Art. Sie sind naiv, jene klug. Ich bin der Ansicht, daß man auch alle Nicht-Genies in zwei Kategorien einteilen kann: makellose und flammende, in der Form und außerhalb der Form, das heißt mit einer Tendenz zur einen oder zur anderen Seite. Auch Manon Lescaut zerreißt fortwährend die Form.«
    »Und auch Vera?«
    »Auch Vera ist außerhalb der Form. Sie gleicht einer Kerzenflamme: Sie flackert hin und her, und wahrscheinlich reicht ein bloßer Hauch, um sie zu löschen.«
    »Jetzt ist klar, daß Sie in sie verliebt sind. Sie sehen die ganze Welt nun durch Vera, sogar Goethe und Mozart«, sagte Nina Aleksejewna.
    »Sie irren sich«, antwortete ich.
    »Sie tun mir sehr leid«, sagte Nina Aleksejewna, »ich bin mir sicher, daß Vera über Sie lacht.«
    »Kann sehr gut sein«, antwortete ich.
XI.  Die Sonne leuchtete so beharrlich, daß der Schnee auf dem Dach des Waggons geschmolzen war und an den Ecken lange Eiszapfen hingen. Fort war der Zug, der uns die Sicht auf die Landschaft versperrt hatte. Das Feld mit den häßlichen Bahnhofshäuschen war zum Vorschein gekommen. Der Schnee funkelte dort winterlich, und um den Zug herum war er zu Pfützen geschmolzen. Alle waren lautstark herausgekommen, um sich an der Sonne aufzuwärmen, und hatten die Waggontür weit geöffnet.
    Im Waggon war es gleißend, ungewohnt hell geworden. Alles regte mich auf und schien mir grob. Es wehte ein feuchter Wind. Die Menschen waren auch alle grob geworden. Levit hatte alle zur Seite geschubst und genüßlich sein welkes Gesicht zum Sonnenstrahl hin plaziert. Ich lag auf der Pritsche und gab vor zu schlafen. Unmittelbar über meinem Kopf, über das Dach des Waggons, trappelten schnelle kleine Schritte.
    »Das ist Rosaj, der verrückt geworden ist«, sagten die Mädchen, »er ist auf das Dach geklettert und rennt da oben wie ein Ziegenbock herum.«
    »Also das ist ein richtiger Mann!« sagte Galopowa.
    Eine Minute später platzte Rosaj, klein, schlitzäugig, stramm, ganz rot vom Rennen, in unseren Waggon herein. In den Händen hielt er einen großen Eiszapfen und warf ihn mit Schwung auf Vera. Ich richtete mich auf der Pritsche auf, um das alles besser zu sehen. Vera wurde furchtbar rot, schüttelte das Eis auf den Boden ab und drehte sich zu mir um.
    »Wer kommt mit mir aufs Dach?«
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