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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra
Autoren: Guido Dieckmann
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verständnislos die Achseln. »In einigen Monaten schreiben wir das Jahr 1538. Welche großartigen Geheimnisse mag Euch diese Zahl schon verraten?«
    Lupian stieß einen ärgerlichen Laut aus. Seine Hand mit dem Stilett zuckte. Eine dünne Blutspur rann seinen Daumen hinab und besudelte seinen weißen Ärmelaufschlag.
    »Bildet die Quersumme, und Ihr erhaltet eine neue Zahl aus der alten«, sagte Lupian, während er gleichmütig seinen blutenden Daumen betrachtete.
    »Siebzehn«, bestätigte Philippa. Allmählich dämmerte es ihr, worauf der vermeintliche Schreiber hinauswollte. Die Mystik, der sich Lupians Freunde bedienten, um ihre geheimen Ziele zu verschleiern, bestand aus der Kunst, Zahlen so lange zu zerlegen, bis sie für Eingeweihte eine gewisse Bedeutung erlangten.
    »Die Eins steht vor der Sieben.« Philippa atmete kräftig durch, um das flaue Gefühl aus ihrer Brust zu vertreiben. »Beide Zahlen sind heilig. Gott ist einzig, und er herrscht über die Vollkommenheit der Schöpfung!«
    »Nicht schlecht, Jungfer von Bora!« Lupian deutete eine spöttische Verbeugung an. »Ich sagte ja bereits, daß ich es bedaure, Euch nicht mehr in alle unsere Geheimnisse einweihen zu können. Eines habt Ihr bei Eurer Deutung jedoch übersehen. So wie der Eine in sieben Tagen die Welt ins Dasein rief, so ist auch Einer berufen, die sieben Schalen des Zorns über die Erde und ihre Bewohner auszugießen: Aussatz, Blut, Feuer … Studiert das letzte Buch der Heiligen Schrift, die Johannes-Apokalypse, wenn Ihr mir nicht glaubt!«
    »Ihr habt das Feuer im Schuppen des Arztes gelegt? Seid Ihr etwa auch für das Verschwinden des Kindes aus dem Spital verantwortlich?«
    »Warum auch nicht?« gab der kahlköpfige Mann zu. »Euch schien einiges an dem kleinen Bastard zu liegen. Ich glaubte, daß die Verwechslung Euch ein wenig vom Geschwätz der Lepperin ablenken würde. Ihr wurdet mir ein wenig zu vertraut mit dem törichten Frauenzimmer. Schaut nicht so grimmig drein, Philippa! Ich habe den Kleinen in gute Hände gegeben, wo es ihm besser gehen wird als bei einer Person, die ihn ans fahrende Volk verschachert, nur um ihren peinlichen Fehltritt mit dem Medicus zu verschleiern.«
    Im nächsten Augenblick hörte Philippa auf dem Gang das Gepolter schwerer Stiefel sowie Möbel, die auf den Dielen herumgeschoben wurden, und Waffengeklirr. Aufgebrachte Stimmen drangen an ihr Ohr; Fäuste schlugen gegen die Tür. Philippa stürzte zum Eingang, um den Riegel zurückzuschieben. Doch kaum hatte sie ihre Hand auf das Eisen gelegt, als Lupian sie auch schon von der Tür zerrte.
    »Wollt Ihr Euch ebenso dumm aufführen wie mein Weib?« zischte er haßerfüllt. »Ins Gesicht hat sie mir gesagt, daß sie mir nicht länger gehorchen würde! Sie hatte vor, Doktor Luther aufzusuchen, um mich zu verraten! Und nun … seid Ihr an der Reihe!«
    Philippa wollte schreien, doch ihre Stimme versagte vor Aufregung. Mit letzter Kraft machte sie sich von dem zornigen Mann los, stolperte und riß in einem verzweifelten Versuch, nicht zu stürzen, die Staffelei des Hofmalers Cranach zu Boden. Ein scharfer Schmerz jagte durch ihren Rücken und ihre Knie. Als sie ihren Kopf hob, sah sie in Lupians Hand kalten Stahl aufblitzen.
    Keuchend winkelte Philippa ihre Arme an, um sich von den Dielenbrettern abzustützen, doch ihre Ellbogen knickten vor Angst zusammen wie dünne Holzspäne. Ihre Finger tasteten den Boden nach einer Waffe ab. Vergeblich. In ihrer unmittelbarer Nähe lagen nur Lucas Cranachs Malutensilien: Farben, Pinsel und verschmierte Leintücher, deren scharfer Geruch ihre Sinne zu betäuben drohten.
    »Geht weg von der Tür, Philippa«, brüllte auf einmal eine dunkle Stimme jenseits der verschlossenen Pforte. Momente später zerfetzte ein ohrenbetäubender Knall die Stille der Nacht. Der eiserne Riegel zersprang in tausend Stücke.
    Auf Lupians Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. Zweifellos erkannte er, daß die Eichentür seinen Feinden nicht länger standhalten würde. Mit einer Behendigkeit, die Philippa dem Schreiber niemals zugetraut hatte, sprang er auf das Gesims unter dem Fenster und stieß beide Flügel weit auf.
    »Ich werde Euch vermissen, werte Magistra«, rief er Philippa zu, die noch immer am Boden lag. Die Männer, die mit Hakenbüchsen und Schwertern über die Trümmer der geborstenen Tür stiegen, schien er überhaupt nicht zu registrieren. »Aber wir werden uns wiedersehen, sobald die siebente Schale des gerechten Zorns
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