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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra
Autoren: Guido Dieckmann
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niemals betreten hatte. Einige Wochen zuvor war in seinem Inneren die Mutter des verschollenen Kindes verschwunden.
    »Ich bringe Euch bis ans Tor!« erklärte Bernardi mit einer Entschlossenheit, die keinen Widerspruch zuließ. »Dann kehre ich in die Stadt zurück, um Melanchthon zu benachrichtigen. Er sollte dabei sein, wenn wir Doktor Luther und Eure Tante von Rottmanns Absichten in Kenntnis setzen!«
    Philippa beschleunigte ihren Schritt. Nach den Anstrengungen der Fahrt war sie zu abgespannt, um mit Bernardi zu diskutieren, doch die Erwartung eines Wiedersehens mit Katharina, Luther und ihrer alten Amme schien ungeahnte Kräfte freizusetzen.
    Nachdem Bernardi sich verabschiedet und sie ermahnt hatte, in ihrer Kammer zu bleiben, zog sie sich müde die Treppe hinauf. Sie fühlte sich krank und fiebrig. Auf der Höhe der Gesindestuben hielt sie einen Moment inne. Sie vernahm Wortfetzen, Gelächter und die Töne einer Flöte. Ob die Dienerschaft des Hauses etwas zu feiern hatte?
    Philippa erinnerte sich der Worte eines Scholaren, den sie und Bernardi erst gegen Mittag am Wegkreuz nach Dessau getroffen hatten. Doktor Luther, so wußte der Junge zu berichten, habe bereits auf dem Sterbebett gelegen. Seine Ärzte hätten ihn mit Knoblauchtinkturen und Pferdemist behandelt und schließlich aufgegeben. Doch dann sei die Lutherin angekommen und habe den Dienern befohlen, die Pferde anzuspannen und den Kranken nach Hause zu bringen. Diese Entscheidung, so mutmaßte man in der Stadt, habe ihm das Leben gerettet, denn auf der Fahrt über die unebenen Landstraßen Kursachsens lösten sich die Steine in den Nieren des Doktors, worauf die Beschwerden allmählich nachließen.
    ***
    In Philippas Kammer hatte sich während ihrer Abwesenheit nichts verändert. Die Vorhänge des Alkovens waren zurückgezogen und ein wildes Durcheinander aus Kleidern, Hauben, Schleiern und verschiedenen Gürtelbändern verteilte sich unter dem Baldachin. Offensichtlich hatte niemand, nicht einmal Roswitha, die Kammer während ihrer Abwesenheit betreten.
    Zitternd vor Fieber und Kälte streifte Philippa sich die feuchten Kleider vom Leib, rieb sich mit einer Decke trocken und schlüpfte schließlich in ein leicht zerknittertes Hauskleid aus karmesinrotem Leintuch. Den passenden Gürtel fand sie nicht. Während sie ihre Truhe nach einer Haarbürste absuchte, stand plötzlich Roswitha in der Kammer. Die Flamme der Lampe, die sie in der Hand trug, geriet ins Flackern, als die alte Frau die Tür hinter sich ins Schloß warf. In ihren Augen lag ein gefährliches Funkeln.
    »Ihr habt wohl geglaubt, Euch unbemerkt ins Haus schleichen zu können!« stieß sie wütend hervor. »Ich habe Euch vom Fenster der Küche aus gesehen. Euch und den Magister!«
    »Roswitha …« Philippa richtete sich auf und klappte den Truhendeckel wieder zu. Reumütig blickte sie die Amme an. Es war schwer, die richtigen Worte zu finden.
    »Hier, der Brief ist für Euch!« Roswitha reichte ihr mit einer abrupten Handbewegung ein mehrfach gefaltetes Kuvert. »Eure Tante wünscht Euch auf der Stelle in der Studierstube des Doktors zu sprechen!«
    Philippa überflog die wenigen Zeilen, die Roswithas Aufforderung bestätigten. Während sie sich fragte, was Katharinas Förmlichkeit wohl zu bedeuten hatte, nahm ihre Amme die Decke und das nasse Kleid vom Boden auf und hängte beides zum Trocknen über die Lehne eines Stuhles.
    »Ich kann ja verstehen, daß du wütend auf mich bist«, sagte Philippa leise und machte einen Schritt auf ihre Amme zu. »Schon als kleines Mädchen habe ich dir Ärger bereitet, nicht wahr?«
    »Ihr wart ein schwieriges Kind«, seufzte die alte Frau. Mit einer unbeholfenen Geste strich sie ihrer Ziehtochter eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Wild und schwer zu bändigen! Aber wenn Ihr es niemandem weitersagt, werde ich Euch ein Geheimnis verraten: Gerade diese Stärke war es, die ich stets bewundert habe. Schließlich wurdet Ihr zur Edeldame erzogen, nicht zur Duckmäuserin. Was immer Ihr auch getan haben mögt: Ich danke dem Herrgott, daß Ihr wohlbehalten zu Eurer alten Roswitha zurückgekehrt seid!«
    Philippa verzog den Mund. »Tante Katharina wird nicht so versöhnlicher Stimmung sein wie du!«
    Unvermittelt wich die Alte von ihr zurück und erhob warnend die Hand. »Dann solltet Ihr keine Zeit mehr mit überflüssigem Geschwätz vergeuden, mein Herz! Die Lutherin ist in der Tat außer sich. Wenn Ihr wüßtet, was während Eurer Abwesenheit
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