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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra
Autoren: Guido Dieckmann
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ausgegossen ist!«
    Seinen Worten folgte eine blitzschnelle Bewegung, Philippa nahm ein surrendes Geräusch wahr, das die Luft zerschnitt, und sah fassungslos, wie sich die Spitze der Klinge, mit der Lupian sie bedroht hatte, keine Handbreit neben ihr in die Dielen bohrte.
    Sie sprang auf die Füße, ratlos, ob sie den Mann aufhalten, ob sie schreien oder zum Fenster laufen sollte. Der einstige Worthalter der Wiedertäufer schwang sich unbeirrt über den Kastensitz. Im nächsten Augenblick verschmolz seine Silhouette lautlos mit der Dunkelheit des Hofes. Dann erklang ein schriller, panischer Schrei, der vielmehr Überraschung als Angst oder Schmerz ausdrückte.
    Philippa rührte sich nicht mehr von der Stelle. Zusammengekauert verharrte sie auf dem Boden neben der umgestürzten Staffelei. Wie in Trance spürte sie, daß Bernardi und Roswitha auf sie zu eilten, sie umarmten und ihr zärtlich über Wangen und Haare strichen.
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis Philippa die vielen Menschen wahrnahm, die sich um das offene Fenster scharten und betreten auf einen schwarzen Fleck tief unten auf dem Pflaster starrten. Ihr Onkel Martin Luther und Katharina waren unter ihnen, außerdem eine Handvoll Bewaffneter der Stadtwache und – Graf Wolfger, der mit grimmiger Miene und ausgebreiteten Armen die Höhe des Dachvorsprungs maß.
    »Das Baugerüst«, flüsterte Philippa so leise, daß selbst Bernardi sie kaum verstehen konnte. »An alles hat Lupian gedacht, nur nicht daran, daß es bereits in der Frühe abgebaut worden war!«
    Ihre Lider wurden bleischwer. Zu Tode erschöpft lehnte sie ihren Kopf gegen Bernardis Brust.
    ***
    Am nächsten Morgen baten Martin und Katharina Luther ihre Nichte und Felix Bernardi zu einem Gespräch. Die Familie versammelte sich nicht in der Wohnstube, sondern in der Küche, wo es behaglich warm war. Ein Schaukelpferd stand in einer Ecke. Die beiden jüngsten Kinder der Luthers, Paul und Margarethe, klammerten sich an die Mähne des hölzernen Tieres und stritten verhalten darüber, wer es als erster besteigen durfte. Philippa zwinkerte ihnen zu, obgleich sie unter starken Kopfschmerzen litt und sich sehnlichst zurück in ihre Kammer wünschte. Vorsichtig streckte sie ihre Hände nach dem schwelenden Herdfeuer aus, während eine Magd den breiten Tisch mit einer Zinnkanne umrundete und dampfenden Wacholdersaft in langstielige Gläser goß.
    Auf ein Zeichen der Hausherrin stellte das Mädchen die Kanne zurück auf den Herd und zog sich zurück, um Roswitha bei der Zubereitung einer Kräutersalbe für die Muhme Lene zur Hand zu gehen. Die Nachrichten von den Ereignissen der letzten Nacht hatten der alten Frau schwer zugesetzt. Roswitha hatte sich deshalb erboten, in ihrer Kammer zu bleiben. Sie mochte es nicht zugeben, aber die alte Dame war ihr ans Herz gewachsen.
    »Wir sind Euch zu Dank verpflichtet, Nichte«, sagte Luther schließlich, während seine Augen unstet dem Spiel seiner Kinder auf dem hölzernen Schaukelpferd folgten. Sein Gesicht wirkte ebenso grau wie der Mantel, in den er sich wegen der Kälte gehüllt hatte. »Meine Knechte haben den Verräter auf einem Karren mit Stroh vom Hof geschafft. Ihr werdet seinen Anblick also nicht länger ertragen müssen. Wie seid Ihr nur darauf gekommen, daß es Lupian war, der unser Haus bedrohte?«
    Philippa wechselte einen flüchtigen Blick mit Bernardi. Die Frage ihres Onkels kam gewiß nicht von ungefähr, dennoch verspürte sie eine tiefe Traurigkeit, als sie an Maria Lepper und ihren schicksalhaften Weg dachte. Ein Weg, der ausgerechnet im Schwarzen Kloster zur Sackgasse geworden war. Angestrengt legte sie die Stirn in Falten. Sie hätte ihren Verwandten von den vielen kleinen Hinweisen berichten können, welche die Frau des einstigen Worthalters Rottmann gegeben hatte, um auf dessen doppeltes Spiel aufmerksam zu machen. Da war zum Beispiel das Papier, das Philippa in der Schulstube gefunden hatte. Die Geschichte des Wolfes, dessen Opfer bei seinem Anblick erstarrten. Es war eine Legende aus römischer Zeit gewesen, doch nicht der Eidgraf sollte durch sie bloßgestellt werden, sondern ein Mann, der nicht nur die Mystik der Zahlen, sondern offensichtlich auch geheimnisvolle Wortspiele beherrscht hatte. Der Name, den der falsche Schreiber sich in Wittenberg zugelegt hatte, war genaugenommen nichts weiter als eine Abwandlung des lateinischen Wortes für Wolf. Weder Philippa noch Bernardi war dies in ihrer Aufregung um die Vorgänge im Lutherhaus
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