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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese
Autoren: Martin Krist
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musste, spürte er gelegentlich noch ein Ziehen.
    Ein jähes Heulen ließ Sam erstarren. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Nur ein Fuchs , beruhigte er sich. Oder ein Wildschwein .
    Trotzdem beeilte er sich, nach Hause zu kommen.
    Kapitel 1
    Ich habe gewusst, dass Sie kommen. Nein, nicht Sie. Aber irgendjemand, der die Wahrheit herausgefunden hat. Früher oder später musste es doch passieren.
    Bitte, kommen Sie herein. Gehen Sie ins Wohnzimmer. Setzen Sie sich.
    Ich erzähle Ihnen gerne die Wahrheit: Dinge passieren einfach, ob Sie wollen oder nicht, und sie setzen Ereignisse in Gang, gegen die Sie noch viel weniger ausrichten können. Es ist wie bei diesem Spiel mit den Dominosteinen.
    Den Kindern heutzutage ist es kaum noch ein Begriff. Viel lieber spielen sie mit ihren Telefonen herum, diesen kleinen Computern und den anderen Geräten, deren Namen ich nicht kenne. Ich bin zu alt für so etwas. Doch jeden Tag sehe ich auf dem Dorfplatz die Mädchen und Jungen damit spielen. Was sind schon ein paar Holzsteine, deren einziger Sinn darin besteht, der Reihe nach umzufallen, im Vergleich zu dem bunten Geflacker auf diesen winzigen Bildschirmen?
    Aber ich schweife ab. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Es gibt so vieles, das mir durch den Kopf geht.
    Als kleines Kind spielte ich oft Domino mit meinem Vater, im Sommer abends hinter dem Haus. Mit einer Engelsgeduld, wie ich sie später nie wieder bei jemandem erlebt habe, reihte er die Dominoklötzchen auf der Terrasse aneinander. Einige der Holzsteinchen, die ich ihm aus einem Säckchen reichte, platzierte er sogar im Blumenbeet meiner Mutter.
    »Eduard«, rief sie, als sie mit einem Tablett voller Teller, Messer und Gabeln zu uns auf die Terrasse kam, »seid ihr da etwa zwischen meinen Geranien?«
    »Geranien? Welche Geranien?« Mein Vater machte einen Satz, der angesichts seiner mächtigen Statur überraschte. Schon stand er zwischen seinen Tomatenstauden. »Ich seh’ nur Tomaten. Frische Tomaten. Brauchst du nicht welche für den Salat?«
    Er zupfte eine Frucht vom Strauch und biss hinein. Dabei grinste er hinter seinem dichten Bart hervor wie ein vorlauter Schuljunge. Nicht nur ich musste kichern.
    »Macht nicht mehr allzu lange.« Lachend verteilte meine Mutter die Teller auf dem Gartentisch. »Das Abendessen ist gleich fertig.«
    »Mit oder ohne Tomaten?«
    Mit den Gabeln in der Hand drehte meine Mutter sich um, eine ebenso neckische Antwort auf den Lippen. Ich mochte die Art, wie meine Eltern miteinander umgingen. Ihre Beziehung war von Respekt und Zuneigung geprägt.
    So glücklich , dachte ich in solchen Momenten, möchte ich später auch mal sein .
    Diesmal schüttelte meine Mutter nur kurz den Kopf. Während sie zurück ins Haus ging, schnürte sie ihre lilafarbene Küchenschürze enger um die schmale Hüfte. Anders als mein Vater war sie von zarter Statur.
    Als alle Dominosteine standen, ohne dass Geranien oder Tomatenstangen einen Schaden erlitten hatten, setzten wir uns auf die alte Gartenbank. Wir warteten, bis Mutter die dampfenden Töpfe auf dem Tisch abstellte und sich zu uns gesellte. Erst dann zupfte mein Vater eine Karo -Schachtel aus der Brusttasche seiner Latzhose, die er bei der Arbeit am liebsten trug. Uns umgab Zigarettenqualm, den ich tief durch die Nase einsog. Ich mochte den würzigen Duft, der sich unter den Geruch von Schmorbraten, Kartoffeln und Kraut mischte, der Mutters Schürze anhaftete.
    »Was meinst du, Kleines, sollen wir sie laufen lassen?« Mein Vater zerzauste mir die Haare.
    Ich sprang auf.
    »Ah, ah, ah«, sagte er.
    Auf Zehenspitzen, das flatternde Blümchenkleid, das mir meine Mutter genäht hatte, fest an meine Beine gedrückt, tapste ich zu den Dominosteinen hinüber. Ich bückte mich und gab dem ersten Klötzchen einen Stoß. Sofort sauste der Dominozug mit einem Rattern über unsere Terrasse und durch das Gartenbeet.
    Jedes andere Kind hätte das Spektakel wahrscheinlich mit Jubelrufen begleitet. Ich dagegen ließ mich wieder zwischen meinen Eltern nieder. Mein Vater hielt die Augen geschlossen, lauschte dem Surren der fallenden Steine. Für ihn, glaube ich, bedeutete das Spiel – das geduldige Aufbauen und das hypnotische Säuseln der Klötzchen – vor allem Entspannung nach einem anstrengenden Tag. Für mich war es Zeit, die ich mit meinen Eltern verbringen durfte, von denen ich viel zu selten etwas hatte. In ihrer Nähe, an die kräftige Schulter meines Vaters gelehnt, das Kitzeln von Mutters
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