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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese
Autoren: Martin Krist
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es von Anfang an vorgehabt hatte. Als sie die Dorfstraße überquerte, stolperte sie über einen Pflasterstein.
    Das Straßenpflaster in Finkenwerda war sicherlich doppelt so alt wie die Telefonzelle. Darauf mit hochhackigen Schuhen zu gehen, wie Lisa sie an diesem Abend trug, glich fast einem Abenteuer, so groß war die Gefahr, im nächsten Moment umzuknicken. Das war aber auch das einzige Abenteuer, das Finkenwerda zu bieten hatte. Bis vor einigen Monaten war der alte Jugendclub am Dorfplatz noch akzeptabel gewesen, aber mittlerweile war er irgendwie nur noch etwas für Kinder. Für Kinder wie Sam.
    »Aber«, hörte sie ihn hinter sich flüstern, »Mama wird sauer sein.«
    »Hey, nur zur Erinnerung!« Lisa blieb stehen und betonte jedes einzelne Wort: »Das ist sie schon – scheißsauer!«
    Sie lachte, aber es klang wie ein verärgertes Schnauben. Allerdings war ihr nicht klar, auf wen sie wütender war: auf sich selbst, weil sie vorhin die Zimmertür offengelassen hatte, während sie sich zunächst ihre Finger- und Fußnägel schwarz lackiert hatte und anschließend in ihr Lieblingskleid und in ihre Lieblingsabsatzsandaletten geschlüpft war, oder auf ihre Mutter, die ohne anzuklopfen hereingeschneit war und Lisas drei Tage altes Bauchnabelpiercing entdeckt hatte? Ihr Gezeter klang Lisa immer noch in den Ohren.
    Andererseits – hätte Lisas Mutter nichts von dem Piercing erfahren, hätte das vermutlich auch nichts an ihrer schlechten Laune geändert. In letzter Zeit war sie immer gestresst und sauer. Nimm nicht solche Wörter in den Mund , motzte sie dann. Warum trägst du so knappe Sachen? Oder: Räum endlich dein Zimmer auf! Eigentlich konnte man ihr gar nichts recht machen. Als wäre Lisa schuld an der ganzen Misere.
    »Aber«, stammelte Sam, »wenn Mama rauskriegt …«
    »Wenn du dich nicht verplapperst, dann …« Lisa hielt inne, als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bewegung wahrnahm. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Guck mal, Sam.«
    Die Augen ihres kleinen Bruders weiteten sich, als auch er die verwahrloste Gestalt entdeckte, die wirres Zeug vor sich hin murmelte.
    »Soll ich sie mal rufen?«, fragte Lisa.
    Ihr Bruder schüttelte entsetzt den Kopf.
    Lisa grinste und rief: »Berta, hey, warte doch mal!«
    Hast du nicht gehört, du sollst warten , blaffte die Stimme in Bertas Kopf, also bleib verdammt noch mal stehen!
    » Nein«, flüsterte Berta verschreckt und beschleunigte ihre Schritte. »Ich bleib’ nicht stehen, auf keinen Fall, das mach’ ich nicht.«
    Ihr alter Körper sträubte sich gegen die Bewegung, aber Berta kümmerte sich nicht um den Schmerz. Viel schlimmer war die Angst, die tief in ihrem Innern lauerte; die wie eine Bestie nur auf den richtigen Augenblick wartete, um wieder über sie herzufallen.
    Berta zwang sich, schneller zu gehen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.
    Das wird dir eine Lehre sein, dich meinen Entscheidungen zu widersetzen. Glaubst du denn, du kannst tatsächlich vor mir weglaufen?
    »Nein«, flüsterte Berta, »nein, natürlich nicht, das habe ich nie geglaubt, nie, niemals.«
    Ihr Blick fiel auf das Mädchen, das von der gegenüberliegenden Straßenseite ihren Namen schrie, und sie blieb stehen.
    »Hey, Berta«, rief die junge Frau lachend, »ich glaube, mein kleiner Bruder möchte mit dir reden.«
    Berta konnte sich nicht an den Namen des Mädchens erinnern. Es gab so vieles, das sie sich nicht mehr merken konnte. Ihr Gedächtnis hatte Lücken bekommen.
    Aber mich hast du nicht vergessen, und du wirst mich auch niemals vergessen. Dafür habe ich gesorgt.
    »Ja«, sagte Berta keuchend, »ja, ich habe dich nicht vergessen, niemals …«
    Und das lag auch an dem Mädchen, das noch immer lachte, mit einer glockenhellen Stimme, die wie geschaffen war für einen Abend wie diesen. Entsetzt über ihren letzten Gedanken, schüttelte Berta ihren schmerzenden Kopf, doch die Wahrheit stand ihr jetzt klar vor Augen. Das Mädchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte lange, schwarze Haare, sie trug ein adrettes Kleid, dazu Schminke und schwarzen Nagellack. Sie hatte sich hübsch gemacht. Sie sah fast aus wie –
    Ja, sieh sie dir an, schau genau hin, in ihr süßes Gesicht, und du weißt, an wen sie dich erinnert!
    »Nein«, wisperte Berta. »Nein, das ist nicht wahr, das ist nicht richtig, nein, nein …«
    Panik trieb sie vorwärts, sie stolperte über das Straßenpflaster, ihrem Hof entgegen. In einem der Häuser kläffte ein
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