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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Charlotte Thomas
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Flucht hatte sie geschwitzt, aber jetzt fröstelte sie. Als sie weggelaufen war, hatte sie keine Zeit mehr gehabt, sich zum Ausgehen anzuziehen. Die Seide ihrer Schuhe löste sich allmählich in Fetzen auf, und von den feuchten Gassen stieg die kühle Luft unter ihre Röcke.
    In den Rinnen und bröckelnden Vertiefungen der nur zum Teil gepflasterten Wege und Plätze hatte sich das Regenwasser vom Morgen gesammelt. Fast bei jedem zweiten Schritt trat sie in eine Pfütze, und wenn es eine Stelle an ihrem Kleid gab, die noch nicht durchweicht und verschmutzt war, würde man erst danach suchen müssen.
    Ein unterdrückter Ausruf dicht hinter ihr ließ sie herumfahren. Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, als sie sah, dass es einer ihrer Verfolger war. Die beiden anderen waren nirgends zu sehen, doch ihm war es gelungen, sie aufzustöbern. Es war der Anführer. Seine große, sehnige Gestalt war unter dem schwarzen Umhang nur zu ahnen, doch sie hatte ihn auch schon ohne die Maske gesehen und wusste daher, wie stark er war.
    Sie keuchte laut auf, als die nächste Wehe begann, von ihrem Körper Besitz zu ergreifen. Sie fühlte, wie der Schmerz vom unteren Teil ihres Rückens aus ihre Beine lähmte und ihren Atem stocken ließ.
    Auf dem Höhepunkt der Wehe verließen sie alle Kräfte. Sie blieb stehen und brach in die Knie. Der Schmerz war unvorstellbar, wie ein rasendes Tier, das seine Zähne und Klauen gleichzeitig in ihren Leib schlug. Sanchia schrie auf und schlang beide Arme um ihre Mitte.
    »Bei allen Heiligen, was haben wir denn hier?«
    Der Mann, zu dem die Stimme gehörte, blieb dicht neben ihr am Fuß der Brücke stehen.
    Sanchias Blick war getrübt. Der Schmerz hielt sie immer noch gefangen. Sie war außerstande, den Blick zu heben und ihn anzusehen. Alles, was sie erkennen konnte, war eine eng anliegende grüne Strumpfhose mit einem Wappen und neben seinem rechten Schenkel die Spitze des herabbaumelnden Schwerts.
    »Soll ich dir helfen, Liebchen?« Rohes Gelächter ertönte, während Hände ihren Leib betasteten. Der Mann versuchte, sie hochzuziehen und an sich zu pressen, nur um sie dann ebenso abrupt wieder fallen zu lassen. »Wenn ich dich näher betrachte, fürchte ich, dass hier alle Hilfe zu spät kommt. Da hat schon ein anderer Hand angelegt.«
    Der Mann ging weiter, gefolgt von einer Horde weiterer Bravi in Wappenstrumpfhosen. Einer von ihnen stieß Sanchia grob zur Seite, als sie Hilfe suchend die Hand ausstreckte. Der Schmerz war noch nicht abgeflaut, sie konnte immer noch nicht richtig atmen, geschweige denn etwas sagen.
    Sie hatte soeben den Blick in den Augen ihres Verfolgers gesehen. Er stand keine zehn Schritte entfernt und wartete, dass die jungen Burschen vorbeizogen.
    Kaum hatten sie sich entfernt, trat er näher und ergriff Sanchias Arm.
    »Komm«, sagte er einfach, während er sie hochzog. »Lass uns von hier verschwinden.«
    Eine Öllampe an der Palastmauer erhellte einen schmalen Streifen über der Maske, genau an der Stelle, wo die Augen sichtbar waren.
    Sanchia las darin ihren Tod.
    Piero hockte auf der Ruderbank des Sàndolo und starrte in einer Mischung aus Missmut und Ungeduld zur Piazzetta hinüber. Am Rand der Mole waren die ersten Fackeln entzündet worden, vor deren flackerndem Licht sich die Umrisse zahlloser Gondeln und ein Gewirr schwankender Bootsmasten abzeichnete.
    »Siehst du ihn?«, fragte er.
    »Nein.« Vittore, der neben ihm saß, gab ein unterdrücktes Rülpsen von sich. Vorhin hatte er auf dem Weg zum Händler eine mit Schmorzwiebeln gefüllte Pastete verzehrt, die seine Verdauung auf eine harte Probe stellte. »Ich sehe ungefähr tausend Mal tausend Menschen, aber nicht den einen.«
    »Er wollte zwischen den Säulen stehen und uns winken«, hob Piero hervor, »sobald die Fackeln und Lampen entzündet werden.«
    »Das wollte er. Aber manchmal ist sein Hirn kleiner als eine Erbse. Vielleicht ist ihm auch ein Schwein auf den Kopf gefallen.«
    Vittores Scherz vermochte Piero nicht aufzuheitern. Seine eigenen Eingeweide schienen ihm wie ein einziger harter Klumpen aus Trauer und Furcht. Manchmal wünschte er sich, weinen zu können, hieß es doch, dass Tränen die Seele befreiten. Doch diese Erleichterung war ihm nicht vergönnt, und so kam es ihm vor, als würden der Schmerz und die Selbstvorwürfe ihn langsam von innen her aushöhlen.
    Er hätte bei Bianca bleiben sollen. Sie in dieser Situation allein zu lassen war nur eine weitere Niedertracht in der Reihe derer, die sie
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