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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Autoren: DeVa Gantt
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Suppenküche geschlossen hat.«
    »Nein, nein. Dann müssten Sie meine Beichte anhören, und das könnte den ganzen Tag dauern«, wehrte John ab. »Bemühen Sie sich lieber um die, bei denen Sie noch mehr Erfolg haben. Für mich gibt es keine Absolution.«
    In Wahrheit wollte John an diesem Tag allein sein. Er kannte niemanden, mit dem er gern den Weihnachtstag verbracht hätte. Außer mit Charmaine vielleicht. Er trieb Phantom zu einem raschen Trab entlang der Wilderness Road an, die Richtung Westen nach Appomattox führte. Sein Ziel war Freedom. Der Ritt dauerte vermutlich den ganzen Tag. Ein einsamer Ritt und anschließend ein leeres Haus auf der Plantage. Das war genau das, was er jetzt brauchte.
    Father Michael hatte inständig gehofft, dass John Duvoisin den Weihnachtstag bei ihm in St. Jude verbringen würde. Aus diesem Grund hatte er ihn gestern in seiner Stadtwohnung in Richmond aufgesucht und ihn persönlich eingeladen. Als der Butler ihn einließ, saß John am Piano. Vom Verwalter der Plantage wusste Michael, dass John im Spätsommer längere Zeit auf den Inseln seiner Familie gewesen war. Offenbar war dort etwas Ernstes vorgefallen. Michael kannte diesen verlorenen Gesichtsausdruck – und zwar seit ihrer ersten Begegnung in St. Jude vor nunmehr vier Jahren. Damals hatte John im Alkohol Zuflucht und Vergessen gesucht. Aber heute war er nüchtern. Trotzdem wollte Michael das nicht auf die Probe stellen. Sie sprachen nur kurz miteinander, und als er wieder in den Mantel schlüpfte, war er zuversichtlich, weil John ihm einen Besuch versprochen hatte. Doch als er sich heute kaum zehn Minuten nach seiner Ankunft schon wieder verabschiedet hatte, wurde Michael klar, dass John ihm aus dem Weg ging.
    Eine quälende Unruhe bemächtigte sich seiner. Wie naiv war ich doch! Zu glauben, dass ich die bedauernswerte Welt ändern könnte! Ein weiteres Jahr nutzloser Seelsorge … und ein Armutszeugnis für mich …
    Er wandte sich von der Tür ab und öffnete die lederne Mappe, die John ihm beim Abschied in die Hand gedrückt hatte. Er fand zwanzig Banknoten, die die Kosten der Suppenküche für den heutigen Tag bei Weitem übertrafen. Ganz zu schweigen von der Kollekte im Anschluss an die Messe. »Es ist Ihnen vergeben, John«, sagte er leise und wiegte nachdenklich den Kopf. Dann betrat er die Sakristei, um die Messgewänder für den Weihnachtstag zurechtzulegen.
    Samstag, 6. Januar 1838
    Yvette hatte durchgesetzt, dass Jeannette und sie ihre neuen Reitsachen anziehen durften, und strahlte entsprechend, als sie am Frühstückstisch erschien. Belustigt zog Frederic eine Braue in die Höhe, während seine Tochter stolz vor ihm auf und ab hüpfte, wie sie das selbst im hübschesten Kleid noch nie getan hatte. »Wie findest du mich, Papa? Gefallen dir die Sachen?«
    »Ehrlich gesagt, nein, aber ich sehe, dass du Spaß daran hast. Nur das zählt.«
    Einige Augenblicke lang mimte Yvette die Enttäuschte, aber gleich darauf gewann ihr Glück wieder die Oberhand.
    Rose schmunzelte. »Sie sieht aus wie eine Duvoisin, die sich in die Arbeit stürzt, würde ich sagen.«
    Frederic nickte und musterte seine andere Tochter. »Und was sagst du, Jeannette? Magst du die Jungensachen?«
    »Sie fühlen sich komisch an, Papa. Eigentlich mag ich Kleider lieber.«
    Charmaine seufzte ein wenig, als sich die drei nach dem Frühstück verabschiedeten. Paul hatte ebenfalls zu tun, also musste sie den Tag ganz allein verbringen. Nach dem Frühstück unterhielt sie sich noch eine Weile mit Rose, doch als sich die alte Dame wegen ihres Rheumas entschuldigte und in ihr Zimmer zurückzog, entschied sich Charmaine für einen Spaziergang und verließ das Haus.
    Sie schlenderte ziellos hierhin und dorthin, bis sie sich nach einiger Zeit auf dem Familienfriedhof wiederfand, der nicht mehr so verwildert war wie früher. Offenbar sorgte Frederic dafür, dass er regelmäßig gepflegt wurde. Sie setzte sich auf die neue Bank nahe bei den frischen Gräbern wie so oft während der letzten Monate, wenn sie Pierres schmutziges Lämmchen im Arm gewiegt hatte. Sie schloss die Augen, um ihre Tränen zurückzudrängen, und schrak zusammen, als Paul ihr plötzlich die Hand auf die Schulter legte, weil er sie trösten wollte.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
    Sie brachte kein Wort heraus und schüttelte nur stumm den Kopf.
    »Gerald sagte, dass ich Sie hier finde.« Er reichte ihr sein Taschentuch und wartete
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