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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Autoren: DeVa Gantt
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das große Paket öffnen durften, das am Tag zuvor angekommen war. Seit Monaten war es das erste Lebenszeichen von John. Charmaine ließ die Mädchen gewähren, weil sie wusste, dass am nächsten Tag noch weitere Überraschungen auf sie warteten. In kürzester Zeit förderten die Mädchen aus einem wahren Papierberg zwei perfekt geschneiderte Reitjacken in königlichem Blau samt hellen Reithosen, samtenen Kappen, Stiefeln und Reitgerten zutage.
    Agatha wollte schon zu der üblichen Klage ansetzen, dass Frederics Töchter keine Jungensachen tragen sollten, doch da sie bereits gegen Charmaines selbst genähte Reithose nichts ausgerichtet hatte, nahm sie stattdessen lieber einen Schluck Brandy.
    Das Paket enthielt außerdem einen Gedichtband für die Mädchen. Ein Briefchen steckte wie ein Lesezeichen zwischen den Seiten, wo A Visit from St. Nicholas abgedruckt war. Die Mädchen lasen den kurzen Brief laut vor, danach das Gedicht und schließlich noch einmal den Brief …
    Liebe Yvette und liebe Jeannette,
    vielleicht kommt der Weihnachtsmann sogar nach Charmantes und füllt eure Strümpfe … falls die Rentiere auf Schnee verzichten können und Auntie ihnen die Landung auf dem Dach gestattet … und falls Yvette brav ist. Die Chancen stehen also nicht unbedingt gut. Für den Fall, dass der Schlitten ausbleibt, erreichen euch hoffentlich meine Geschenke. Frohe Weihnachten.
    In Liebe,
    John
    Beleidigt umklammerte Agatha ihre Sessellehne. Sogar über den Ozean hinweg machte sich dieser John noch über sie lustig. Die Mädchen aber liefen begeistert davon, um Socken zu suchen und noch an den Kamin zu hängen.
    Yvettes und Jeannettes Begeisterung wärmte Charmaines Herz, und sie staunte, welch großen Einfluss John auch noch aus dieser Entfernung auf die Mädchen ausübte. Sie sah zu Frederic hinüber, der die Szene mit großem Interesse verfolgt hatte. Als er ihren Blick bemerkte, schaute er zu dem Bild über dem Kamin empor. Was er wohl gerade denkt? Spontan wusste ihr Herz die Antwort: Er hat nicht gedacht, dass es einmal so kommen könnte, und er hat es auch nicht gewollt .
    Es gab auch ein kleines Päckchen für Charmaine.
    »Machen Sie es auf, Mademoiselle«, rief Jeannette. »Was wohl darin ist?«
    Charmaine sah kurz zu Paul hinüber, der am Kamin stand und in die Flammen starrte. Sie löste das Band, und als sie das Papier öffnete, erblickte sie eine schlichte Haarbürste aus Elfenbein. Lächelnd fuhr sie mit dem Finger über den weichen Griff. Diese Bürste war sehr viel edler als ihre alte, die John im letzten August bei seiner Ankunft zertrümmert hatte.
    »Ein wunderschöner Abend«, bemerkte Agatha. »Die ganze Familie friedlich um das knisternde Kaminfeuer versammelt … Man könnte glauben, dass man in England ist. Genau so muss Weihnachten sein.«
    Charmaine fand die Bemerkung ziemlich gefühllos und blickte sich um. Paul hielt den Kopf gesenkt, George hatte sich hinter einer Zeitschrift verschanzt, Frederic sah bekümmert drein, ebenso Rose, und selbst Fatima Henderson spitzte erzürnt die Lippen. Wo John wohl den heutigen Abend verbrachte? Instinktiv wusste Charmaine, dass er allein war.
    Später dann, als sie im Kinderzimmer die Lampendochte herunterdrehte, hätte sie über Jeannettes unschuldige Frage beinahe geweint. »Glauben Sie, dass der Weihnachtsmann uns Pierre und Mama zurückbringen kann?«
    Mit Trauer im Herzen sah Charmaine zu Pierres leerem Bett hinüber und dachte daran, wie sie bei ihm geschlafen und wie John dort gelegen hatte. Sie freute sich schon, wenn Weihnachten endlich vorbei war. Während sie sich entkleidete, dachte sie an ihre Mutter … an Colette … und an Pierre. Dann kroch sie ins Bett und weinte. Doch die Tränen nützten nichts, also begann sie zu beten. Sie betete für ihre geliebten Toten und bat um Trost in ihrer Trauer. Doch ihre innigsten Gebete galten den Duvoisins.
    Weihnachten 1837 Richmond
    Die frostige Luft ließ Johns Atem gefrieren, als er die Stufen vor dem Waisenhaus von St. Jude hinunterging. Er schlang den Wollschal seiner Schwestern enger um den Hals, löste Phantoms Zügel und schwang sich in den Sattel. So früh am Morgen waren die Straßen noch leer, doch im Waisenhaus herrschte bereits Hochbetrieb. John war zeitig gekommen, weil er Father Michael noch vor der Messe und dem anschließenden Truthahnessen für die Armen sprechen wollte.
    »Warum leisten Sie uns denn nicht Gesellschaft, John?«, fragte der Priester. »Wir könnten zusammen essen, sobald die
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