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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Autoren: DeVa Gantt
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geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte. Mit mitfühlendem Blick setzte er sich zu ihr.
    »Ich dachte eigentlich, dass Sie heute arbeiten müssten«, sagte Charmaine.
    »Das habe ich auch getan. Aber mein Vater und meine Schwestern haben mich getroffen und nach Hause geschickt.« Er lachte in sich hinein. »In meinen Augen ist Yvette ein kleines Wunder. Inzwischen beeindruckt sie sogar mich.«
    Charmaine lächelte versonnen. Seit Yvette sich um die Buchhaltung für die Sägemühle kümmerte, war ihr noch kein einziger Rechenfehler unterlaufen. Selbst Frederic war hochzufrieden und überprüfte die Zahlen nur noch ein Mal in der Woche.
    »Kommen Sie öfter hierher?«, fragte Paul.
    »Hin und wieder«, flüsterte sie, als die Trauer sie wieder übermannte. »Oh, Paul. Als meine Mutter starb, konnte ich mir keinen schlimmeren Schmerz vorstellen. Doch ich habe mich geirrt! Ich vermisse ihn jeden Tag. Jeden Morgen denke ich an Pierre. Und wenn ich es einmal vergesse und dann ins Kinderzimmer komme …«
    »Aber, aber«, tröstete Paul sie. Fürsorglich nahm er sie in die Arme und barg ihren Kopf an seiner Schulter. »Das ist nur natürlich. Sie haben Pierre doch wie einen eigenen Sohn geliebt.«
    Charmaine schluchzte, und Paul hielt sie geduldig umfasst, bis sie allmählich wieder ruhiger wurde.
    »Nach Colettes Tod habe ich die Mädchen sogar geschimpft!«, stieß sie hervor. »Ihre Mutter war gerade einen Monat tot, und ich habe ihnen Vorwürfe gemacht! Und jetzt sehen Sie mich an! Pierre ist seit drei Monaten tot und … Wie konnte ich ihnen das nur antun?«
    »Sie haben nur getan, was für die Kinder am besten war. Sie haben sie aus der Verzweiflung herausgeholt und dem Leben wiedergegeben. Mit etwas mehr Zeit und Geduld wird es auch Ihnen wieder besser gehen.«
    Charmaine nickte stumm und fühlte sich sehr getröstet.
    Verzweifelt schloss Paul die Augen. Warum musste das meiner Familie passieren?
    Er war wieder neun Jahre alt, und die untergehende Sonne warf bereits lange Schatten über den Hafen. Wie gebannt sah er mit John und George vom Kai aus zu, wie die letzten Fässer von Bord gerollt wurden. Die übrigen Matrosen lungerten herum und warteten, dass ihre Kameraden endlich ihre Arbeit beendeten. Anschließend machten sie sich grölend ins Dulcie’s auf. Frederic war mit dem Kapitän im Lagerhaus verschwunden, um die Rechnungen der Ladung zu kontrollieren. Jetzt gehörte die Brigg ihnen!
    Blitzschnell kletterten die drei über das Fallreep nach oben. Heute Abend waren sie Piraten. Mit Säbeln und Pistolen kämpften sie gegen die Mannschaft und eroberten schließlich das Kommando. Dann krochen sie in den Bauch des Schiffes und plünderten die Kisten und Schatullen voller Goldmünzen und Juwelen, die dort versteckt waren. Unter Deck konnten sie kaum die Hand vor Augen sehen … aber sie konnten hören, als ihr Vater nach ihnen rief. In diesem Augenblick war der Zauber gebrochen.
    Paul musste schlucken und zog Charmaine enger an sich. Hier auf der Insel starben kleine Jungen nicht. Charmantes war schließlich das Paradies. Aber dann erinnerte er sich, dass in diesem Paradies sehr wohl drei kleine Jungen ihr Leben verloren hatten, und zwar bei einem Piratenüberfall vor ungefähr fünfzig Jahren. Sein Vater war damals kaum älter als zwei Jahre und hatte einen Bruder und eine Schwester von vierzehn und zwölf Jahren. Zwischen ihnen gab es noch drei weitere Brüder von fünf bis neun Jahren. Die Kinder schliefen friedlich in ihren Bettchen, als über ihren Köpfen ein Feuer entfacht wurde, das binnen einer grauenvollen Stunde das einzige Haus vernichtete, das damals auf Charmantes stand.
    Frederics Vater Jean Duvoisin II . hatte mit den Piraten, die in den Gewässern der Westindischen Inseln ihr Unwesen trieben, einen Vertrag geschlossen, der ihnen freien Zugang zu allen Buchten seiner Inseln gestattete, solange sie nirgendwo an Land gingen, und Les Charmantes damit zwanzig friedliche Jahre beschert. Aber die Ruhe war trügerisch und gaukelte eine Sicherheit vor, die es nicht gab. Statt den eigenen Reichtum zu mehren, hätten sich die Bewohner von Charmantes besser gegen die Überfälle und Gemetzel gewappnet, die rundherum die Nachbarinseln vernichteten.
    Frederics Erzählungen zufolge warteten die Angreifer nur darauf, dass sein Vater die Insel wegen einer Geschäftsreise verlassen musste. Sie landeten mitten in der Nacht an der Westküste und überrannten die bescheidenen Befestigungen in weniger als einer
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