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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen
Autoren: Cassandra Negra
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seine Großmutter zu töten.
    Lea erinnerte sich, wie minutiös ihr Lieblingsprofessor damals an den Fall herangegangen war. Er pflegte Serienmörder als »Künstler« zu bezeichnen, behandelte sie als solche und versetzte sich in ihr »Werk« hinein, um ihre Beweggründe gänzlich zu erfassen. Genau diese Vorgehensweise hatte er auch von seinen Studenten verlangt.
    »Schauen Sie sich die Fotos des Täters und die vom Tatort an. Denken Sie immer daran, dass man das Werk des Täters wie das Bild eines Künstlers betrachten muss.« Schließlich könne man Picasso auch nicht verstehen oder würdigen, ohne seine Bilder genau anzusehen. Die erfolgreichen Serienmörder würden ihr Werk so sorgsam planen wie ein Maler sein Gemälde. Sie würden das, was sie taten, als ihre »Kunst« betrachten und sie im Laufe der Zeit zu verfeinern suchen.
    »Also«, hatte er damals seine Studenten aufgefordert, »wer von Ihnen möchte sich mal an einer Tatortbeschreibung und Interpretation versuchen?«
    Er hatte vergeblich auf Freiwillige gewartet.
    »Niemand?« Der Wissenschaftler schien sichtlich enttäuscht, und die Gruppe hatte sich hilfesuchend nach Lea umgeschaut.
    Sie erinnerte sich noch genau, wie sie erst zögerlich, dann zunehmend forscher und engagierter begonnen hatte, die Fotos vom Tatort zu beschreiben. Und diese Bilder hatten eine ihnen eigene Sprache gesprochen: Lea erkannte, dass der Täter ziemlich ungeplant, ja, man konnte sagen, chaotisch und impulsiv vorgegangen war. Hier schien es nichts Geordnetes, keine Inszenierung oder gar etwas Ritualisiertes gegeben zu haben. Alles lebte nur vom Augenblick und der Eingebung, so als ob der Täter einem Gedankenblitz gefolgt war. Impulsiv, so hatte sie bei ihrem Interpretationsversuch gemutmaßt, musste er seine Großmutter erschossen und sie dann – als sie schon längst tot war – auch noch erstochen haben, um ganz sicher zu gehen.
    Sie wusste noch genau, dass sie besonders auf den Zorn des Täters zu sprechen kam und darauf, dass es eine Art Overkill gewesen sein musste. Ein untrügliches Zeichen dafür war, dass hier jemand mit einer buchstäblich mörderischen Wut auf das Opfer eingestochen hatte. Hier zeigte sich die unfassbare Grausamkeit, die man oft bei Tätern fand, die zu ihrem Opfer eine ganz besondere emotionale Bindung gehabt hatten. Keller musste in einem Anflug von Raserei gehandelt haben. Vermutlich hatten sich all seine Aggressionen, die sich die gesamte Zeit über in ihm aufgestaut hatten, in seiner Tat Bahn gebrochen.
    Lea war rasch zu einer Schlussfolgerung gekommen: Die Großmutter hatte nur stellvertretend für eine Person gestanden, die der Täter abgrundtief gehasst haben musste – nämlich für seine Mutter.
    Hier hatte sich etwas mit einer ungeheuren Gewalt und einer zerstörerischen Kraft entladen, das möglicherweise der Anfang von etwas viel Größerem sein konnte. Wenn ein alles zurückhaltender Damm erst einmal gebrochen war und wenn die Schwelle zum Töten einmal überschritten wurde, gab es kein Zurück mehr.
    Bezeichnend bei diesem Fall war gewesen, dass der Täter seinen Großvater »lediglich« erschossen und ihn dann ganz und gar achtlos liegen gelassen hatte. Dieser Mord hatte ihn eigentlich gar nicht interessiert, sondern er passierte eher zufällig, als hätte es sich eben so ergeben. Eigentlich hatte Keller seinen Großvater gar nicht töten wollen. Er hatte ihn einfach nur beseitigt, weil er sich ihm in den Weg gestellt hatte. Jo Kellers Aggression und sein gesamter aufgestauter Vernichtungswille hatten jedoch etwas anderem gegolten.
    Lea erinnerte sich und musste dabei an den Fall in ihrer soeben bestandenen Abschlussprüfung denken: Einmal mehr war es das Weibliche gewesen, das der Täter ein für alle Mal hatte auslöschen wollen.
    Als wäre es gestern gewesen, sah sie sich in dem Hörsaal von Professor Steiner stehen. Alle hatten ihren leidenschaftlichen Ausführungen gespannt zugehört. Es war wohl das erste Mal gewesen, dass sie spüren konnte, wie nah sie dem Täter war, in jeder Minute – nur einen Atemzug von ihm entfernt.
    »Sehr gut, Frau Lands«, hatte ihr Professor damals begeistert ausgerufen, und das war nicht oft der Fall gewesen, denn normalerweise war er mit Lob mehr als nur sparsam. Und dann hatte er sie aufgefordert – nach all dem, was er ihr beigebracht hatte –, sich noch mehr in Keller hineinzuversetzen und zu versuchen, in seine Seele zu blicken. Sie sollte erfühlen, was ihn wohl bewegt hatte und was
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