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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen
Autoren: Cassandra Negra
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geschafft hatte, schon zu Lebzeiten ein Mythos zu sein.
    Und es schien, als hätte seine Stimme den Atem all derer aufgesogen, die ihm vier Jahre zuvor im Reichstag zugehört hatten.
    »Mein lieber Wenger«, sagte er eindringlich, » der Prophet gilt nichts im eigenen Lande. Aber das Gelächter ist dem jüdischen Volk im Halse steckengeblieben. Sie wissen, dass wir die Rassenfrage lösen müssen. Das Judentum hat sein Lebensrecht für immer verwirkt. Ich habe Sie für die Lösung dieses Problems ausersehen.«
    Seine Worte überfluteten Wenger. Dieser fühlte einen gewissen Genuss und spürte die suggestive Kraft, die sie entfalteten.
    »Sie müssen blind an sich glauben«, fuhr der Mann fort. »Deutschland braucht Sie. Fangen Sie an. Ihnen wird alles möglich sein. Der deutsche Wille ist stark. Zeigen Sie es endlich wieder!«
    Als ob er in den Augen seines Zuhörers noch ein Fünkchen Zweifel wahrgenommen hätte, wiederholte er nachdrücklich:
    »Nehmen Sie all Ihre Kraft zusammen. Das reicht noch nicht – strengen Sie sich an! Mehr, mehr! Ich weiß, dass Sie es können.«
    Wenger konzentrierte sich und war wieder in eine Art Trance zustand geglitten. Er hörte nur diese Stimme; es gab nichts anderes mehr um ihn herum.
    »Noch mehr, mehr, mehr!«, befahl sie ihm, und dann schien sie zufrieden.
    »Gut! Nun ist es genug! Was sehen Sie jetzt, Wenger?«
    »Ich sehe es!«, rief er begeistert. »Ganz klar liegt es jetzt vor mir. So klar, dass ich es greifen kann. Ich habe eine Mission zu erfüllen und zu gehorchen, für unser deutsches Vaterland. Nur dafür werde ich kämpfen und alle töten, die sich mir in den Weg stellen.«
    »So ist es gut, mein Lieber«, sagte der Mann. »Ich sehe, Sie haben verstanden.«
    Im Reden hatte Wenger gemeint aufzuwachen, und jetzt kam es ihm so vor, als ob er den Mann noch murmeln hörte: »Manchmal bedarf es eben nur eines kleinen Anstoßes in die richtige Richtung.«
    Darauf versank er wieder in der warmen Süße. Er sah eine Tribüne, Tausende begeisterte Menschen, und er hörte wieder diese Stimme. Sie erfasste ihn wie eine riesige Welle, hob ihn in die Lüfte, und Musik drang an sein Ohr. Er schien über allem zu schweben, nichts konnte ihn mehr davon abhalten, seine Mission zu erfüllen.
    »Völker! Seid des Volkes Gäste, kommt durchs offene Tor herein!«, klang es zu ihm herüber. »Deinen Glanz in Taten preisen, reines Ziel: Olympia.«
    »Ja, Olympia, du Schöne«, schrie er aus vollem Herzen, während die Hymne weiter erklang: »… Wer darf deinen Lorbeer tragen, Ruhmesklang: Olympia?«
    »Na, wer schon«, rief er begeistert aus, denn die Antwort wusste er längst. Es war die Hymne der Olympischen Sommerspiele aus dem Jahr 1936 von Richard Strauss.
    Kein typischer Strauss, wie man ihn kannte, nein, eher staatstragend und theatralisch. Die Musik stand mit diesem komplexen und harmonisch reichen Chorwerk nicht in seiner gewohnten Tradition. Ein wenig Götterdämmerung spürte man und auch etwas von dem Größenwahn der Nationalsozialisten. Und das, obwohl Strauss diese Hymne nicht etwa für den NS-Staat geschrieben hatte, sondern vom Internationalen Olympischen Komitee mit dieser Komposition beauftragt worden war. Strauss hatte sie in einem Brief an Stefan Zweig gar etwas abschätzig als Gelegenheitswerk bezeichnet und hinzugefügt: »Ich vertreibe mir in der Adventslangeweile die Zeit damit, eine Olympiahymne für die Proleten zu komponieren, ich – der ausgesprochene Feind und Verächter des Sports.«
    All das interessierte Wenger herzlich wenig, im Gegenteil, er hatte davon keine Ahnung. Die Melodie jedoch, die er da leise vor sich hinsummte, kannte er in- und auswendig.
    Den Glockenturm mit dem Adler sah er direkt vor sich, und über dem Chor erhob sich die vertraute, ekstatische Stimme. In diesem Augenblick verspürte er eine unglaubliche Euphorie. Alles schien möglich, und alle Menschen in diesem Stadion schienen in ihrem Kampf vereint.
    Dann aber wurde er jäh und unvermittelt aus dem Paradies verwiesen. Der Himmel verdunkelte sich, als hätte Wenger sich den Zorn Gottes zugezogen, der ihn nun bestrafte. Blitze zuckten durch die Finsternis. Die schöne Stimme war noch nicht verklungen, da fand er sich in einem Bunker wieder. Hier unten schien es noch dunkler zu sein, geradezu bedrohlich düster.
    Draußen hörte man den Einschlag russischer Granaten auf dem Gelände der Reichskanzlei, der Bunker erzitterte unter dem herabstürzenden Mauerwerk. Kalk und Zementstaub
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