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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen
Autoren: Cassandra Negra
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aus einer anderen Welt drangen die Worte des Prüfers an ihr Ohr.
    »Frau Lands?«, fragte dieser ein weiteres Mal, als sie nicht gleich reagierte, »geht es Ihnen gut? Haben Sie die Frage verstanden? Ich fragte nach typischen Merkmalen einer psychopathischen Persönlichkeit und der Häufigkeit ihres Auftretens bei Gewaltverbrechern«, setzte er nach.
    »Ja, alles in Ordnung«, bestätigte sie automatisch, ohne nachzudenken. Nein, nichts war in Ordnung. Wochenlang hatte sie  sich auf diese Prüfung vorbereitet, und nun das! Alle Lehrbücher und Skripte – Psychologie, Kri minalistik und Rechtsmedizin – hatte sie studiert. Jetzt kam diese simple Frage, und sie fand die Antwort nicht. Verdammt, sie konnte sich nicht erinnern.
    Blackout!
    Aber einfach kampflos aufgeben, das kam für Lea nicht in Frage. Es kostete sie einige Anstrengung, aber sie mobilisierte ihre letzten Reserven, denn es war ihre einzige Chance. Schließlich wandte sie sich mit belegter, vor Aufregung zitternder Stimme an den Vorsitzenden der Prüfungskommission.
    »Ich habe keine Ahnung, Ihre Frage kann ich leider nicht beantworten. Aber ich bitte um eine zweite Chance!«
    Noch immer fühlte sich ihr Kopf so leer an wie eine alte Festplatte, die man gerade neu formatiert hatte. Leas Herz klopfte. Vermutlich hätte sie in diesem Augenblick kein vernünftiges Wort mehr herausbringen können. Sie war froh, dass ihre Bitte ihr eine Atempause verschafft hatte. Sie musste einfach nur ruhig bleiben, durfte nicht in Panik verfallen. Das Gelernte war nicht plötzlich weg. Es stand nur vorübergehend nicht zur Verfügung.
    Professor Schneider war verdutzt und gleichzeitig beeindruckt von der unverblümten Offenheit und dem Kampfgeist seiner Kandidatin. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Mehr noch: Er empfand sogar eine gewisse Sympathie für diese junge Frau, die da vor ihm stand. Die Prüfungsangst, die er bei ihr deutlich wahrgenommen hatte, tat ein Übriges. Er überlegte nicht lange und war einverstanden.
    »Nun gut! Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Ihrem ersten Einsatz als Profilerin und werden Zeugin eines vollkommen verpfuschten Polizeieinsatzes. Die Spurensicherung hat offensichtlich schlampig gearbeitet und der zuständige Kommissar war wohl auch nicht ganz bei der Sache. Was tun Sie?«
    Inzwischen hatte sich ihre Nervosität gelegt und sie zögerte nicht lange. Als Neuling würde sie keinesfalls ihre Kollegen kri tisieren oder sich gar besserwisserisch aufspielen, antwortete sie.
    Sie würde versuchen, die Kollegen so gut wie möglich zu unterstützen und dem Kommissar mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Sollte ihr Kollege nicht fähig sein, den Tatort zu sichern oder Zeugen zu befragen, würde sie ihm selbstverständlich ihre Hilfe anbieten.
    »Keinesfalls aber würde ich einfach übernehmen und die Kollegen spüren lassen, dass ich als Neue alles besser kann«, schloss sie ihre Ausführungen.
    »Gut, das war die Frage zum Warmlaufen, die Lockerungsübung. Jetzt wird’s ernst«, setzte Schneider nach. Sein Blick war so streng wie der eines Raubvogels, der seine Beute fest ins Visier genommen hatte.
    Der Professor hatte einige Tatortfotos für sie vorbereitet und eine Tonbandaufnahme. Er bat Lea, sich die Bilder genau anzusehen und aufmerksam zuzuhören, um eine kurze psychologische Analyse des Täters zu geben.
    Die junge Frau nickte, warf einen Blick auf die Fotos, während sich der Raubvogel langsam auf sie herabzusenken schien und den Knopf des Aufnahmegerätes herunterdrückte. Er stand so dicht vor ihr, dass sie sogar seinen heißen Atem spüren konnte. Tat er das absichtlich, um sie nervös zu machen?
    Die Bandaufnahme startete.
    Sie hörte, wie eine Frau schrie: ein verzweifelter, durchdringender Schrei, der sie aus ihren Gedanken riss. Deutlich konnte sie im Hintergrund zwei Männerstimmen wahrnehmen. Sie erklangen zeitlich versetzt, sodass Lea annahm, dass sie unabhängig voneinander mit etwas anderem beschäftigt waren. Aber woran erinnerte sie dieses Geräusch?
    Sie hörte bruchstückhaft ein hohles, metallisches Schlagen. Es klang, als würde ein Körper gegen etwas prallen. Dann war die Aufzeichnung vorerst zu Ende. Ein Raum konnte es nicht sein, aber vielleicht ein Kleinbus, Lieferwagen oder etwas Ähnliches?
    Sie überlegte.
    Den Stimmen nach zu urteilen, mussten die Männer mittelalt –  etwa Anfang bis Mitte vierzig – sein, vermutete Lea, während sie im Raum umherlief und versuchte, sich den Freiraum zu schaffen, den
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