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Die Logik des Verruecktseins

Titel: Die Logik des Verruecktseins
Autoren: Markus Preiter
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Nämlich mit anderen Individuen ihrer Art. Es war nicht mehr nur in der Partnerwahl zur Reproduktion interessant, wer der Größte und der Kräftigste, sondern eher wer der Klügste und Lernfähigste war.
    Einfacher ausgedrückt: Je größer der Intelligenzpfauenschwanz war, desto stärker wurden potentielle Reproduktionspartner beeindruckt und der »Träger« des »Intelligenzpfauenschwanz« als Sexualpartner bevorzugt. Nach den gleichen Mechanismen, mit denen bei vielen Arten auf physische Stärke evolviert wurde, evolvierten die Vorfahren des Menschen auf psychische Lernstärke, da diese die Überlebensfähigkeit in einer komplexen Umwelt erhöhte.
    Große Köpfe zur Geburt stellen die Mutter aber vor das Problem, einen großen Geburtskanal zur Verfügung stellen zu müssen, jedenfalls in Zeiten, in denen keine moderne medizinische Geburtshilfe und somit kein Kaiserschnitt möglich war. Ein sehr breites Becken ist jedoch mit den statischen Erfordernissen eines aufrechten Ganges, der, einmal evolutionär etabliert, nicht mehr aufgegeben werden konnte, nicht vereinbar. Also schwankt die Evolution gefährlich taumelig auf dem Kompromissgrad zwischen zu kleinem Becken bei großem Kopf mit tödlich endendem Geburtsrisiko und kleinem Kopf bei geringerer Lernkapazität mit mangelnder Konkurrenzfähigkeit im anschließenden nachgeburtlichen »Draußen«. Stabilisierung erfährt das Evolutionsproblem »Kopfgröße des Kindes« auf dem schmalen Kompromissgrad mit der Zeit durch einen evolutionär entstandenen »Trick«. Kinder kommen erst dann zur Welt, wenn sie gerade noch durch den Geburtskanal gelangen können, ohne Rücksicht auf die für die Mutter damit entstehenden Schmerzen. Ein längeres Verbleiben in der Gebärmutter würde aufgrund der Kopfgröße
zu einem geburtsunmöglichen Zustand führen. Ein früheres, bezogen auf den Geburtsvorgang weniger gefährliches In-die-Welt-Kommen würde hingegen einen körperlich außerordentlich labilen Organismus aussetzen, der mit dem Umzug vom mütterlichen geborgenen Innensein im Uterus hin in die feindliche Außenwelt überfordert wäre. Erst moderne apparative Neonatologie gestaltet das »Draußensein« in einer Weise, dass ein Überleben der Frühankömmlinge gesichert werden kann.
Großes Gehirn, große Abhängigkeit
    Der Auszug aus der Mutter findet biologisch determiniert und evolutionär datiert dann statt, wenn das Kind zu einer Widerstandsfähigkeit herangereift ist, die eine gute Überlebenschance ermöglicht. Dafür sind die Neuankömmlinge im Draußen aber hochgradig versorgungsbedürftig. Für den jungen Menschen kann das neue In-den-Armen-eines-anderen-Sein nur eine diskret veränderte Fortsetzung der vorher erlebten uterinen Situation mit anderen Mitteln sein. Der dabei zu bewältigende Entwicklungssprung darf in dieser ersten Schwellensituation des Lebens nur so groß sein, dass er auch mit hoher Wahrscheinlichkeit bewältigt werden kann.
    Die Geburtsrisikoschwelle wird dabei aber knapp überschritten. Es ist besser, der Mutter Schmerzen zuzumuten und ein gewisses Geburtsrisiko einzugehen, als dies durch einen kleinen Kopf zu verhindern, da diese Risikovermeidung später im Wettstreit der »Großkopferten« teuer bezahlt werden muss. Ein zu riskantes Zugeständnis an die Kopfgröße wiederum kann sich nicht evolutionär stabil entwickeln, da der Preis einer Totgeburt oder mütterlicherseits tödlicher Komplikationen zu hoch ist. Dieses kompromisshafte Einpendeln zwischen unterschiedlichen Erfordernissen wird uns im Verlauf unserer Untersuchung immer wieder begegnen.
    Draußen und hilflos-schwächlich sein kennzeichnet also den Sieger von morgen. Wie aber im Draußen überleben, physisch und auch psychisch unreif für die Welt? Die Neuankömmlinge sind unerbittlich,
soll heißen im realdramatischen Sinne der Redewendung »auf Gedeih und Verderb« angewiesen auf einen prothetisch wirksamen »Ergänzer«:
    Wer noch nicht laufen kann, muss als Ersatzprothese die Beine eines anderen benutzen und durch die Welt getragen werden. Wer seine Nahrung noch nicht selbst finden und zubereiten kann, dem muss sie durch einen anderen, der sich zwischen ihm und der Welt bewegt, zubereitet und gebracht werden. Wer noch nicht sprechen kann, braucht einen anderen, der ihn anspricht und für ihn ausspricht. Wer sich selbst noch nicht beruhigen kann, braucht einen anderen, der beruhigend auf ihn einwirkt. Wer die Welt noch nicht versteht, braucht einen Vermittler, um in ihr zu
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