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Die Loge

Die Loge

Titel: Die Loge
Autoren: Daniel Silva
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gesetzlose Verhalten der Jugend ein Rätsel, und lächelte der Alten freundlich zu. Frau Ratzinger sammelte die Prospekte ein und marschierte mit ihnen auf den Hof hinaus. Im nächsten Augenblick konnte er hören, wie sie die Kosmetikerinnen beschimpfte, weil sie ihre Zigarettenkippen auf dem Boden austraten.
    Er trat aus dem Haus und blieb kurz stehen, um das Wetter zu begutachten. Nicht zu kalt für Anfang März, und die Sonne schien durch dünne Wolkenschleier. Er steckte seine Hände in die Manteltaschen und ging los. Als er den Englischen Garten erreichte, folgte er einem mit Bäumen bestandenen Weg am Ufer eines von Regenwasser angeschwollenen kanalisierten Bachlaufs. Er liebte den Park. Nach der morgendlichen Fron am Computer konnte sein Verstand sich hier wieder erholen. Und noch wichtiger: Beim Spazieren konnte er feststellen, ob sie ihn heute beschatteten. Er blieb stehen und klopfte mit dramatischer Geste seine Taschen ab, um zu demonstrieren, daß er etwas vergessen hatte. Dann kehrte er um, ging auf demselben Weg zurück, betrachtete forschend die Gesichter der Entgegenkommenden und kontrollierte, ob sie mit einem der vielen Gesichter übereinstimmten, die in der Datenbank seines erstaunlichen Gedächtnisses gespeichert waren. Er blieb auf einer bogenförmigen Fußgängerbrücke stehen, als bewundere er den darunter rauschenden kleinen Wasserfall. Ein Drogendealer mit tätowierten Spinnen im Gesicht bot ihm Heroin an. Der Professor murmelte etwas Unverständliches und ging rasch davon. Zwei Minuten später trat er in eine Telefonzelle und gab vor, ein Gespräch zu führen, während er seine Umgebung sorgfältig beobachtete. Dann hängte er den Hörer ein.
    Wiederseh'n, Herr Professordoktor.
    Er bog in die Ludwigstraße ein und hastete mit gesenktem Kopf durch das Universitätsviertel, wobei er hoffte, nicht von Studenten oder Kollegen erkannt zu werden. Erst Anfang der Woche hatte er einen ziemlich unfreundlichen Brief von Prof. Dr. Helmut Berger, dem aufgeblasenen Dekan seiner Fakultät, erhalten, der angefragt hatte, wann die Fertigstellung seines Buchs zu erwarten sei und er seine Pflichtvorlesungen wiederaufnehmen werde. Professor Stern konnte Helmut Berger nicht leiden – ihre ausreichend publik gemachte Fehde hatte persönliche und akademische Ursachen – und hatte passenderweise noch keine Zeit gefunden, seinen Brief zu beantworten.
    Das Treiben auf dem Viktualienmarkt lenkte ihn von den Gedanken an seine Arbeit ab. Er ging an Pyramiden aus buntem Obst und Gemüse, an Blumenständen und Käseläden unter freiem Himmel vorbei. Er kaufte ein paar Kleinigkeiten fürs Abendessen ein, dann überquerte er die Straße zur Tchibo-Kaffeebar, um dort Kaffee zu trinken und eine Dinkelsemmel zu essen. Als er sich eine halbe Stunde später auf den Heimweg nach Schwabing machte, fühlte er sich erfrischt, mental erholt und bereit, den Ringkampf mit dem Stoff seines Buchs wiederaufzunehmen. Mit seiner Krankheit, wie Orwell es genannt hätte.
    Als er die Nummer 68 betrat, fegte mit ihm ein Windstoß in die Eingangshalle und wirbelte einen neuen Stapel lachsfarbener Werbezettel durcheinander. Der Professor verdrehte den Hals, um lesen zu können, was auf den Zetteln stand. Gleich um die Ecke hatte ein neues indisches Lokal mit Straßenverkauf aufgemacht. Er mochte gute Currygerichte. Also hob er einen Prospekt auf und stopfte ihn in die Manteltasche.
    Der Wind hatte ein paar der Zettel bis fast zur Hoftür geweht. Das würde Frau Ratzinger aufbringen. Als er leise die Treppe hinaufging, steckte sie den Kopf aus ihrem Mäuseloch und sah die Unordnung. Wie erwartet war sie entsetzt und starrte ihn mit dem Blick eines Großinquisitors an. Als er seinen Wohnungsschlüssel ins Schloß steckte, konnte er die Alte schimpfen hören, während sie die Spuren dieses neuesten Frevels beseitigte.
    In der Küche räumte er seine Einkäufe ein und machte sich eine Tasse Tee. Dann ging er über den Flur in sein Arbeitszimmer. Am Schreibtisch stand ein Mann, der lässig in einem Stapel Arbeitsunterlagen blätterte. Er trug einen weißen Kittel wie die Kosmetikerinnen aus dem Schönheitssalon und war sehr groß mit athletisch breiten Schultern. Sein blondes Haar war graumeliert. Als der Eindringling den Professor hereinkommen hörte, sah er auf. Auch seine Augen waren grau, kalt wie ein Gletscher.
    »Öffnen Sie den Safe, Herr Professordoktor.«
    Die Stimme klang ruhig, beinahe kokett. Sein Deutsch war leicht akzentgefärbt. Er
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