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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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kleiner Zuverdienst
heraus. Benjamin erzählte Richard Spencer später, dass die fehlende Ware
verdorben, beschädigt oder irgendwo auf hoher See über Bord gegangen war.
     
    „Wer hätte gedacht, dass wir beide heute
nicht nur zusammen spazieren fahren, sondern sogar zusammen baden würden!“,
bemerkte Benjamin, während er seine Haare notdürftig mit einem Taschentuch
abrubbelte, das ihm einer der Lagerarbeiter gegeben hatte.
    „Was Sie offensichtlich in beste Laune
versetzt, Mr. Hopkins. Ich für meinen Teil bade allerdings lieber zu Hause in
einer richtigen Wanne mit sauberem, warmem Wasser!“, konterte Sibylla. Ihr Kopf
tauchte hinter einer Mauer aus prall gefüllten Jutesäcken mit der Aufschrift dos
Santos - Café da melhor qualidade auf.
    „War das Bad im Hafenbecken nicht genau das
kleine Abenteuer, das Sie so gern erleben wollten?“ Benjamin, der ebenfalls
hinter einer Wand aus braunen Säcken stand, fühlte sich durch ihren neckenden
Tonfall zu weiteren Scherzen ermutigt.
    Sibyllas Blick wanderte prüfend durch die
Halle, aber ihr Vater war nirgends zu sehen. Neugierig nahm sie Benjamin
genauer in Augenschein. Er war so groß, dass die Kaffeesackwand ihm nur bis zum
halben Oberkörper reichte, und dieser war im Moment nackt. Seine Schultern
waren schmal, die Haut blass, das nasse Haar schütter. Seine Erscheinung weckte
in ihr nicht die überwältigende Lust, ihn zu berühren oder gar leidenschaftlich
zu küssen, so wie bei den Heldinnen der Liebesromane, die sie manchmal von
ihrer Stiefmutter Mary auslieh.
    Sie nieste erneut. „Hier zieht es“, stellte
sie fest, wandte sich von Benjamin ab und stopfte ihr nasses Haar unter den
Bowlerhut, den der Hafenarbeiter ihr zusammen mit einem gestreiften
Flanellhemd, groben dunkelblauen Baumwollhosen und viel zu großen Stiefeln
gebracht hatte.
    „Die Luft muss zirkulieren“,“ erwiderte
Benjamin und wies auf die Lamellenfenster an der einen Seite des Speichers.
„Licht und Wärme verderben den Kaffee und zerstören sein Aroma.“
    Richard hatte sie in die erste Etage von
Speicher drei geführt und alle Arbeiter hinausgeschickt. Nachdem er sich
vergewissert hatte, dass Benjamin sich nicht hinter denselben Kaffeesäcken
umzog wie seine Tochter, war er ans andere Ende der gut hundert Fuß breiten und
zwanzig Fuß tiefen Halle verschwunden, um eine neue Lieferung zu inspizieren.
    Sibylla bückte sich, um die derben
Männerstiefel zu schnüren. Benjamin war bereits fertig umgezogen und trat
hinter seinem Stapel hervor. „Es wäre mir eine Ehre, wenn ich Ihnen helfen
dürfte, Miss Spencer.“
    Sie zögerte, doch dann lächelte sie. „Das
wäre sehr nett, vielen Dank.“
    Er wuchtete einen Kaffeesack für sie auf den
Boden, damit sie sich setzen konnte. Dann kniete er vor ihr nieder. Seine
Finger berührten sie nicht, während er sich an dem Stiefel zu schaffen machte.
Dennoch erschien ihr diese Handlung viel intimer als vorhin im Hafenbecken, als
er ihren Körper umfasst und gestützt hatte. Als er fertig war, blickte er auf.
„Sie haben noch eine Alge im Haar hängen“, sagte er leise.
    „Wo?“, fragte sie ebenso leise zurück.
    „Dort.“ Er streckte eine Hand aus und zog das
grünliche Gewächs aus einer feuchten Haarsträhne, die sich unter dem Hut gelöst
hatte.
    „Hm, hm“, räusperte Richard sich hinter
ihnen.
    Sie fuhren zusammen. Benjamin erhob sich
hastig.
    Richard betrachtete seine Tochter mit
gerunzelter Stirn. „Furchtbar siehst du aus! Ich werde das Verdeck des Wagens
hochklappen lassen, damit dich niemand auf dem Nachhauseweg erkennt!“
    Benjamin fand nicht, dass sie so furchtbar
aussah. Auf den ersten Blick ähnelte sie einem Mann, doch ihre zarten
Gesichtszüge waren unverkennbar weiblich. Sein Herz schlug rascher, und er
beeilte sich, seinem Chef in den Gehrock zu helfen.
     
    Das Rascheln der Papiere und Kratzen der
Federn im Kontor der Reederei verstummten, als Benjamin durch die Tür trat.
Fünfzehn Augenpaare musterten seinen seltsamen Aufzug mit unverhohlener Neugier.
    Benjamin ließ sich davon nicht aus der Ruhe
bringen. Es gefiel ihm immer, Aufmerksamkeit zu erregen.
    Gleich darauf wurde er mit Fragen bestürmt:
„Was ist passiert? Warum tragen Sie diese Sachen? Wo ist Miss Spencer?“
    Benjamin lächelte nur und winkte ab. Er
genoss es, die Kollegen auf die Folter zu spannen, aber er würde kein Wort über
sein Erlebnis auf den Docks verlieren. Das sprach sich ohnehin in Windeseile
herum, und er würde vor seinen
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