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Die Loewin von Mogador

Die Loewin von Mogador

Titel: Die Loewin von Mogador
Autoren: Julia Drosten
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jetzt war
es fast Teezeit, und soeben hatte Oscar, Sibyllas sieben Jahre jüngerer Bruder,
der Mannschaft von Eton mit einem phantastischen Schlag zum Sieg verholfen.
    Mit stolz geschwellter Brust, als wäre er
bereits ein Familienmitglied, stand Benjamin neben den Spencers und nahm die
Glückwünsche der anderen Zuschauer entgegen. Heute war er kein Beobachter in
der Welt der Reichen, heute durfte er dabei sein.
    Lächelnd verbeugte er sich vor Sibylla und
führte sie zu dem Picknickplatz, den die Dienstboten im Schatten einer alten
Platane nicht weit vom Spielfeld vorbereitet hatten. Decken lagen auf dem
Rasen. Auf einem Klapptisch lag Besteck und standen Geschirr, ein Krug mit
Lavendellimonade und eine Schale mit frischen Erdbeeren bereit. Richard
entkorkte Wein- und Champagnerflaschen, die in feuchtem Zeitungspapier kühl
gehalten worden waren, Sibylla verteilte Sandwiches mit Schinken und Lachs, und
ihre Stiefmutter Mary schnitt den Käsekuchen an.
    Das elegante Speisen unter freiem Himmel war
sehr beliebt in England, seit Kronprinzessin Victoria diese Mode eingeführt hatte,
und Lord’s Cricketgrund, der gleichzeitig mitten in London und mitten im Grünen
lag, eignete sich dafür bestens.
    „Oscar, würdest du den Tee zubereiten?“, bat
Mary.
    „Wieso ich? Ich will feiern!“, rief Oscar und
hielt dem Diener sein Champagnerglas hin, damit dieser ihm nachfüllte. Sein vorschriftsmäßiger
Sportdress aus weißem Hemd und weißen Hosen war staubig, sein Haar zerzaust, er
selbst verschwitzt. Aber er strahlte vor Stolz. Niemand hatte ihm, der im
letzten Jahr noch Ersatzmann gewesen war, ernsthaft zugetraut, den Sieg zu
holen.
    „Wenn du den Champagner weiter so
herunterschüttest, können wir dich sowieso nicht mehr in die Nähe des
Kerosinkochers lassen“, neckte Sibylla.
    „Dich vielleicht? Du bist schließlich erst kürzlich
ins Hafenbecken gefallen“, konterte ihr Bruder.
    „Glücklicherweise, möchte ich behaupten, denn
wenn ich Ihre verehrte Schwester nicht gerettet hätte, wäre ich heute nicht
hier“, mischte Benjamin sich wichtigtuerisch ein.
    „Tatsächlich, ein unglaubliches Glück!“,
murmelte Oscar spöttisch. Er fragte sich, ob seine Schwester diesen Hopkins,
dieses lange blasse Etwas, wirklich mochte oder ob er nur ein weiterer
unglücklicher Heiratskandidat war, den sie in null Komma nichts wieder
vergraulen würde.
    „Mr. Hopkins, dürfte ich Sie bitten, sich um
den Tee zu kümmern?“, seufzte Mary, während Sibylla Anstalten machte, eine
Serviette nach ihrem Bruder zu werfen. „Und du, Sibylla, hast du deinem Vater
schon ein Sandwich gebracht?“
    Mary hatte Richard geheiratet, als Sibylla
erst vier Jahre alt gewesen war und gerade ihre Mutter durch einen Reitunfall
verloren hatte. Mary hatte Sibylla großgezogen und liebte sie nicht weniger als
ihren leiblichen Sohn Oscar. Doch trotz ihrer sorgfältigen Erziehung färbte
Marys sanftes Gemüt nicht auf ihre Stieftochter ab. Sibylla war wie
Quecksilber, lebhaft, von raschem Verstand und schwer zu lenken. Richard gefiel
dieser Eigensinn gar nicht, und er versuchte ständig, ihn zu zügeln. Aber je
älter Sibylla wurde, desto verbissener kämpfte sie darum, ihre eigenen Entscheidungen
zu treffen, auch wenn es deshalb zu Auseinandersetzungen mit ihrem Vater kam.
    Verstohlen blickte Mary zu Mr. Hopkins.
Vielleicht, dachte sie, ist das endlich der richtige Mann zum Heiraten für sie.
    Insgeheim jedoch fürchtete sie
Schwierigkeiten. Richard hatte ihr erzählt, dass Hopkins aus zwar ehrbaren,
aber einfachen Verhältnissen stammte, und gewöhnlich war es leichter, wenn eine
Frau über ihrem Stand heiratete. Ein Mann, der durch seine Eheschließung
aufstieg, wurde gesellschaftlich nie wirklich geachtet.
    Ein Geschäftsfreund von Richard näherte sich
und schlug ihm jovial auf die Schulter. „Einen großartigen Sohn haben Sie da,
Spencer! Ein ganzer Kerl ist das, der einmal in Ihre Fußstapfen treten wird.“
    „Das ist er“, bekräftigte Richard, und sein
Gesicht leuchtete vor Stolz.
    Sibyllas Mundwinkel kräuselten sich. Alle
führten sich auf, als hätte Oscar soeben im Alleingang die Welt von Napoleon
befreit. Dabei ging es doch nur um ein Spiel, um eine Freizeitbeschäftigung!
Sie merkte, wie ihre eigenen Gedanken sie bitter machten. Als Mädchen hatte sie
oft mit Oscar im Hydepark Cricket gespielt. Sie war gut gewesen und hatte
ehrgeizig Werfen und Schlagen geübt, bis ihr Vater und Mary fanden, dass es
sich für eine junge Dame nicht
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