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Die linkshändige Frau - Erzählung

Die linkshändige Frau - Erzählung

Titel: Die linkshändige Frau - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einen Mann gehen. Ich konnte keine Einzelheiten an ihm erkennen, dazu war es zu dunkel auf der Straße: ich sah nur, daß der Mann eher jung war. Und plötzlich hatte ich die Vorstellung, das Mädchen neben mir würde sich bei dem Anblick dieser Gestalt draußen bewußt, neben einem welch alten Menschen sie da umschlungen im Taxi sitze, und daß sie sich in diesem Augenblick vor mir ekeln müßte! Diese Vorstellung war solch ein Schock, daß ich sofortden Arm von ihrer Schulter nahm. Ich fuhr zwar noch mit zu ihr, ging mit ihr bis zur Haustür, aber da sagte ich ihr dann, daß ich sie nicht mehr sehen wollte. Ich brüllte sie an, sie solle verschwinden, ich hätte genug von ihr, es sei aus, und lief sofort weg. Ich bin sicher, sie weiß bis heute nicht, warum ich sie verlassen habe. Wahrscheinlich hat sie sich gar nichts gedacht bei dem Anblick des jungen Mannes auf dem Bürgersteig. Vielleicht hat sie ihn nicht einmal wahrgenommen …«
    Er trank das Glas leer. Sie schwiegen und schauten aus dem Fenster, wo wieder die alte Frau mit dem Hund vorbeiging und sofort heraufgrüßte; sie hatte einen Regenschirm aufgespannt.
    Der Verleger sagte: »Es war schön mit Ihnen, Marianne. Nein, nicht schön: anders.«
    Sie gingen zur Tür. Der Verleger: »Ich werde mir erlauben, Ihr Telefon manchmal klingeln zu lassen, auch wenn es noch tiefer Winter ist.«
    In der offenen Tür fragte sie ihn, der schon im Mantel war, ob er mit dem Auto gekommen sei; der Schnee wirbelte ins Haus herein. Der Verleger: »Mit einem Fahrer, ja. Er wartet im Wagen.«
    Die Frau: »Sie haben ihn so lange warten lassen?«
    Der Verleger: »Er ist dran gewöhnt.«
    Der Wagen stand vor der Haustür; der Fahrer darin im Halbdunkel. Die Frau: »Sie haben vergessen, mir das Buch zu geben, das ich übersetzen soll.«
    Der Verleger: »Es ist noch im Auto.«
    Er winkte dem Fahrer, der das Buch sofort brachte.
    Der Verleger überreichte es der Frau, die dann fragte: »Sie wollten mich also auf die Probe stellen?«
    Der Verleger, nach einer Pause: »Nun beginnt die lange Zeit Ihrer Einsamkeit, Marianne.«
    Die Frau: »Seit kurzem drohen mir alle.« Zum Fahrer, der danebenstand: »Und Sie, drohen Sie mir auch?« Der Fahrer lächelte verwirrt.
    In der Nacht stand sie mit dem Buch allein im Flur; die Lichtluken über ihr in dem Flachdach knisterten vom Schnee. Sie fing zu lesen an: »Au pays de l’idéal: J’attends d’un homme qu’il m’aime pour ce que je suis et pour ce que je deviendrai.« Sie versuchte zu übersetzen: »Im Land des Ideals: Ich erwarte von einem Mann, daß er mich liebt für das, was ich bin, und für das, was ich werde.« Sie hob die Schultern.
    Am hellen Tag saß sie am Tisch vor der Schreibmaschine und setzte sich eine Brille auf. Sie teilte das zu übersetzende Buch in Seiten ein, die sie täglich schaffen wollte; trug mit einem Bleistift das Datum des jeweiligen Tages ein: am Schluß des Buches war das schon ein Tag mitten im Frühling. Sie schrieb, stockend, daneben im Wörterbuch blätternd, eine Letter der Maschine mit einerNähnadel putzend, mit einem Tuch oft die Tasten abwischend, folgenden Text: »Bis jetzt haben alle Männer mich geschwächt. Mein Mann sagte von mir: ›Michèle ist stark.‹ In Wirklichkeit will er, daß ich stark sei für das, was ihn nicht interessiert: für die Kinder, den Haushalt, die Steuern. Aber bei dem, was mir als Arbeit vorschwebt, da zerstört er mich. Er sagt: ›Meine Frau ist eine Träumerin.‹ Wenn träumen heißt, das sein wollen, was man ist, dann will ich eine Träumerin sein.«
    Die Frau blickte auf die Terrasse, wo jetzt, sich die Schuhe abklopfend, das Kind erschien, eine Schultasche in der Hand. Es trat durch die Terrassentür herein und lachte. Die Frau fragte, warum es lache.
    Das Kind: »Ich habe dich noch nie mit einer Brille gesehen.«
    Die Frau nahm die Brille ab; setzte sie wieder auf: »Du kommst so früh.«
    Das Kind: »Heute sind wieder zwei Stunden ausgefallen.«
    Während die Frau weitertippte, näherte sich das Kind und setzte sich dazu; es gebärdete sich extra still. Die Frau hörte zu arbeiten auf, schaute vor sich hin. »Du bist hungrig, nicht wahr?« Das Kind schüttelte den Kopf. Die Frau: »Stört es dich, wenn ich was tue?« Das Kind lächelte in sich hinein.
    Sie arbeitete dann im Schlafzimmer an einemTisch am Fenster, mit Blick auf die Fichten. In der Tür erschien das Kind mit seinem dicken Freund: »Es ist so kalt draußen. Und zu Jürgen können wir nicht, da
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