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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen
Autoren: Wilhelm Schmid
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bleibt nichts Anderes übrig, als den ständig wechselnden Empfindungen Lauf zu lassen, auch wenn sie vorübergehend ruinös sein sollten. Eine lange nicht gekannte Heftigkeit der Leidenschaft ergreift ausgerechnet jetzt vom Selbst Besitz; »jetzt, wo Du mich verlässt, liebe ich Dich mehr denn je«, schreibt die Malerin Frida Kahlo am 27. Dezember 1925 an Alejandro, ihre Jugendliebe ( Briefe und andere Schriften , 2004). Jede Faser des Fleisches, jede Regung der Seele, jeder Gedanke schreit nach dem, der innerlich, vielleicht schon äußerlich geht; gerade jetzt erscheint er wieder ganz so wie am Anfang: Ohne Makel. Alles klingt nach seinem Namen, selbst wider besseres Wissen, alles an ihm ist schön, auch die weniger schönen Seiten sind eigentlich schön, das gesamte Zusammensein war schön. All das Schöne nicht mehr gemeinsam feiern zu können, raubt dem Leben jeden Sinn. Abgrundtiefe Trauer stellt sich ein, quälender Schmerz über den Verlust, Enttäuschung darüber, dass nicht länger wirklich werden kann, was doch möglich war. Auch die Enttäuschung ist eine ontologische , denn nicht nur vom Anderen ist der Verlassene enttäuscht, nicht nur von der Liebe, sondern vom Leben, von der Welt überhaupt, deren Wirklichkeit doch immer den schönsten Möglichkeiten entgegensteht.
    In die nachklingende Liebe mischen sich nachgeworfene Vorwürfe: Die Wahl, die einst getroffen wurde, war falsch, jede Alternative zu dieser Beziehung wäre besser gewesen. Eine andere Wahl hätte andere Möglichkeiten eröffnet als die bescheidenen mit diesem Menschen, der für alle verpassten Möglichkeiten und für die nichtige Wirklichkeit allein verantwortlich ist und alle Schuld daran trägt, dass es so gekommen ist! Zorn, Wut und Hass ergießen sich über den nichtswürdigen »Verräter«, auch über Freunde und Bekannte, die das alles »nicht wirklich kennen«, aber forsch behaupten, es gehe wieder vorbei und die Schuldfrage sei unwichtig, die Wirklichkeit der Beziehung sei, wie jede Wirklichkeit, ein Labyrinth: Wer draußen ist, findet nicht nach drinnen; wer drinnen ist, findet nicht nach draußen. Oder lastet die Schuld etwa doch auf den eigenen Schultern? Nirgendwo ist Wahrheit und Verlässlichkeit, überall nur Lug und Trug. Dem Anderen ein letztes Mal ausgeliefert zu sein, ist demütigend, gesteigert noch von der Gewissheit, alle Hingabe und Hinnahme in all den gemeinsamen Zeiten sei für nichts gewesen. Und schließlich gewinnen Rachegefühle die Oberhand, dieser »Urgrund, aus dem alle Bosheit, Bösartigkeit, Heimtücke, Falschheit, Lüge, Arglist und Niedertracht erwachsen, zu denen der Mensch in unerschöpflichem Erfindungsreichtum fähig ist« (Horst Petri, Verlassen und verlassen werden , Stuttgart 2005, 63).
    3. Die Entschlossenheit zum Kampf beseelt neu . Gerade eben noch erschien dem Betroffenen die Beziehung als nicht bewahrenswert, aber die Perspektive verkehrt sich in ihr Gegenteil; nach dem ersten Schock und dem darauf folgenden Gefühlschaos löst entschiedene Aktivität die lähmende Passivität ab: Musste es wirklich so kommen? Wäre es nicht zu verhindern gewesen? Was haben wir falsch gemacht? Lässtsich noch etwas retten? Kann alles etwa nur ein Missverständnis gewesen sein? Alles steht zur Disposition, um das Unabwendbare doch noch abzuwenden, alles eine Frage der Verhandlung! Auch dem verlassenen Selbst fehlte schließlich seit Längerem schon so manches in der Beziehung, ohne daraus Konsequenzen gezogen zu haben; jetzt aber, da alles offen ist, ließe sich auch alles ändern, was einer Erneuerung im Wege stünde! Freunde und Bekannte werden mobilisiert, die aus der Sicht des Selbst zur Rettung der Beziehung beitragen können, indem sie neue Brücken zum Anderen bauen und irgendwie ihren Einfluss auf ihn geltend machen: »Sag’ ihr, ich lass’ sie grüßen, / Sag’ ihr, es geht mir gut. / Sprich nicht von den Tränen …« (Udo Jürgens, Popsong, 1965). Schwüre sollen das eigene Verhalten für alle künftigen Zeiten unzweifelhaft festlegen, um den Anderen von einem wirklichen Neuanfang zu überzeugen: Erhielte ich noch einmal eine echte Chance, würde ich dafür sorgen, dass es dem Anderen nie mehr an irgendetwas fehlte! In äußerster Entschlossenheit liegt auch die Anrufung spiritueller und religiöser Instanzen nicht fern, um sie um Hilfe anzuflehen und gegebenenfalls einen Pakt mit ihnen zu schließen: Weitere Verehrung für alle Zeiten gegen konkrete Hilfe jetzt! Nicht auszuschließen, dass der
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