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Die Leute mit dem Sonnenstich

Die Leute mit dem Sonnenstich

Titel: Die Leute mit dem Sonnenstich
Autoren: Horst Biernath
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und beklopft, mußte die Zunge zeigen und atmen, als ob er es ohne diese strenge Aufforderung zu tun vergessen hätte, und durfte sich schließlich erheben.
    Herr Direktor Keyser hielt die rutschende Hose und sah den Professor an, wie ein zum Tode verurteilter Delinquent seinen Scharfrichter anblicken mag. Aber Professor Wollsegger — und das war fast noch schlimmer als ein rascher Hieb mit dem Richtbeil — hüllte sich in Schweigen.
    »Bleim Se mal acht Tage zur Beobachtung hier«, sagte er mit dicker Zunge. Er tippte mit dem spitzen Zeigefinger noch einmal auf Herrn Keysers Bauch: »Da woll’n wa mal vasuchen, wenigstens ‘n paar Pfund von Ihrem Rucksack wegzubringen. Und dann sehn wa mal weiter.« Die acht Tage in der Klinik — Privatzimmer natürlich, wo Professor Wollsegger jeden zweiten Tag zu einem flüchtigen Besuch und Händedruck erschien, einem Händedruck, der in der Rechnung der Klinik zwar nicht aufgeführt war, aber unter dem Titel >Spezialbehandlung< lief und die Endsumme zu astronomischer Höhe trieb —, die acht Tage in der Klinik ergaben nichts, was der gute Hausarzt von Herrn Keyser, Dr. Bierwirth, nicht schon längst festgestellt und gefordert hatte. Direktor Keyser litt, wie heutzutage fast alle Männer zwischen fünfzig und sechzig Jahren, die zuviel arbeiten, zuviel essen, zuviel trinken und sich zuwenig bewegen, an jener Erscheinung, die man mit einem Sammelbegriff Managerkrankheit nennt. Und dagegen gab es ein einziges wirksames Mittel, das schlicht lautete: entlasse deinen Chauffeur, mache deine Wege zu Fuß und friß die Hälfte! Der Hausarzt hatte ihm das einfache Rezept schon vor fünf Jahren empfohlen. Der Professor sagte — mit den gleichen groben Worten, ja gröberen sogar — nichts anderes. Der Unterschied lag nur in der Höhe der Arztrechnung. Aber da nach einer weitverbreiteten Anschauung nur das, was teuer ist, gut sein kann, war Herr Keyser plötzlich davon überzeugt, einen ausgezeichneten und noch nie gehörten Rat erhalten zu haben, den er strikt zu befolgen beschloß. Nicht etwa, daß er seinen Chauffeur sofort entließ, immerhin machte er einen Weg in die Druckerei zu Fuß und ließ sich nur noch zum Abendessen heimfahren. Die Köchin bekam strengen Auftrag, nur noch gegrillte Gerichte auf den Tisch zu bringen, und den Schlüssel zum Spirituosenschrank nahm Marion in Verwahrung und kredenzte ihm den Napoleon nur noch in homöopathischen Dosen. Aber so leichten Kaufes kam er nicht davon. Mit ihrer Eigenmächtigkeit, gegen die sich aufzulehnen er längst den Mut verloren hatte, bestimmte sie den ersten Juni für den ersten Reisetag und verordnete ihrem Vater nach einer langen Rücksprache mit Professor Wollsegger Luft, Bewegung, Schlaf und eine gesunde Ernährung. Die Luft in Bayern, die Bewegung auf dem Wasser, den Schlaf im Zelt und die Ernährung vom Reisekocher.
    »Wir wollen doch sehen, ob wir den Rucksack nicht herunterkriegen!« sagte sie und benutzte den gleichen respektlosen Ausdruck für sein Bäuchlein, den der Professor gebraucht hatte. Bei ihr begehrte Herr Keyser auf. »Rucksack!« knurrte er empört. »Diese Frechheit möchte ich überhört haben!«
    »Rucksack oder nicht Rucksack, auf jeden Fall kommt der Bauch herunter!« sagte sie kühl.
    Es war ein echter Marion-Einfall. Erzeugt und geboren durch den verlockenden Anblick eines Schaufensters, in dem ein geschickter Dekorateur, wirklich ein Künstler in seinem Fach, vier sonnenbraun angepinselte Wachsfiguren beiderlei Geschlechts malerisch um ein Koffergrammophon und ein flackerndes Lagerfeuer gruppiert hatte. Eine Kulisse im Hintergrund ließ ein Stück eines blitzblauen Flusses und kühn gezackte Gebirgsketten sehen, über denen eine strahlende Sonne stand. Im Vordergrund täuschte grüne Holzwollstreu schwellende Rasenpolster vor. Auf ein paar Schaufeln Sand, die die Illusion eines sonnendurchglühten Strandes erwecken sollten, lag ein silbergraues Faltboot mit flatterndem Wimpel. Links in der Ecke öffnete ein geräumiges Zelt eine schmale Pforte, hinter der man einen reizend gedeckten Campingtisch erblickte. Und das ganze Bild krönte ein Dutzend knallroter Pappbuchstaben, die wie die Gloriole mittelalterlicher Heiligendarstellungen im Halbkreis über der Szenerie schwebten:

    FLUSSWANDERN

    Während Marion noch mit der Köchin den Küchenzettel für den kommenden Tag durchsprach, nichts Gebratenes, nichts Gesottenes, nichts Gesalzenes und nichts scharf Gewürztes, ging Herr Keyser in sein Zimmer
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