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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong
Autoren: John Burdett
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Leute von der Gerichtsmedizin erst mal eine Zeichnung angefertigt haben, haben wir etwas, das wir den ausländischen Konsulaten zuschicken können. Der Nichtasiate war wahrscheinlich nicht von hier.« Aston entdeckte so etwas wie Verlegenheit in Chans Gesicht. »Hey, hab’ ich was verpaßt?«
    Chan zuckte mit den Achseln. »Es könnte sein, daß die Ermittlungen vorbei sind.«
    Aston erstarrte. » Vorbei? «
    »Sie haben doch gehört, was die Leute von der Küstenwache gesagt haben. Sie hatten Befehl, uns den Sack abzunehmen.«
    »Und?« Astons Stimme war eine Oktave höher geworden. »Sie haben sie bestochen. Wir haben den Sack.«
    Chan strich sich die Haare aus der Stirn. »Ja, ich hab’ sie bestochen.« Er schaute hinaus aufs Meer, schwieg eine Weile und sagte dann: »Aber die Leute, die den Befehl gegeben haben, uns den Sack abzunehmen, werden in zwei Monaten hier in Hongkong das Sagen haben. Verstehen Sie?« Er sah den jungen Engländer an; er war wie all die anderen ahnungslosen Beamten, die aus England gekommen waren, solange er zurückdenken konnte. »Es ist jetzt schon alles anders. Die Regeln sind anders, das haben sie uns bloß noch nicht gesagt.«
    Chan machte eine Handbewegung in Richtung Hong Kong Island, das direkt vor ihnen auftauchte. »Genießen Sie doch die Aussicht. Sie müssen nach dem Juni nicht hier leben. Das hier ist Urlaub für Sie.«
    Aston schluckte beim Gedanken an das, was Chans Worte bedeuteten, dann starrte er artig durch das Fenster der Kommandobrücke hinaus. Der Wind war vorübergehend abgeflaut – die Ruhe vor dem Sturm. In der Dämmerung des frühen tropischen Abends gingen die Lichter von Aberdeen bis North Point an. Hier wurden Elektrizität und Geld verschwendet wie sonst nirgends auf der Welt.
    Hongkong hatte eine ehrfurchtgebietende Skyline, nicht unähnlich der Manhattans, abgesehen von der Tatsache, daß sie vor einem Gebirge aufragte und die Bürotürme einen riesigen Hafen beherrschten, in dem einige der größten Schiffe der Welt vor Anker lagen. Die Stadt schlief nie; das gleiche galt für den Hafen. Und das alles auf einem nicht einmal fünfzehn Kilometer langen Felsen, der in west-östlicher Richtung vor der Südküste des größten noch verbliebenen kommunistischen Landes der Welt klebte. Knapp fünfzig Kilometer nördlich lebten eins Komma vier Milliarden Menschen, die zwei Monate vor der Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China alle nach Süden blickten. Das war wie in einem mentalen Windkanal: Man spürte den Druck des unbezähmbaren Neides, die Verachtung und die Sehnsucht, die über die Grenze drängten. Jemand hatte einmal gesagt, Hongkong sei ein geborgter Ort für geborgte Zeit. Und diese Zeit wurde jetzt in Stunden gemessen; augenblicklich waren es noch ungefähr fünfzehnhundert, doch sie wurden schnell weniger. Die Kommunisten waren im Anmarsch – bald waren sie da.
    Aston ließ Chan und den Kapitän allein und stellte sich wieder an den Bug, wo er den größten Teil des Nachmittags verbracht hatte. Hongkong war das erste tropische Land, in dem er je gewesen war. Im warmen, schwülen Fahrtwind zu stehen und die Lichter auf der Insel zu betrachten, war wie ein Traum, an dessen Verwirklichung er nie zu denken gewagt hatte. Es war ihm egal, daß er im Juni überflüssig sein würde. Er hatte dann fast drei Jahre hinter sich. Drei Jahre! Kaum zu glauben, welch großes Glück er gehabt hatte.
    Als sie in den Hafen einbogen, verlangsamten sie auf die vorgeschriebenen vier Knoten. Aston sah einer winzigen Frau mit einem breitkrempigen Strohhut zu, wie sie von einem Sampan aus fischte und in dem schwankenden Boot das Gleichgewicht hielt. Die von Heck bis Bug beleuchteten Schiffe der Star Ferry Line fuhren alle fünfzehn Minuten von Hongkong nach Kowloon. Ein Jetfoil in Richtung Macao erhob sich wie eine Heuschrecke auf seinen Stelzen. Die Lichter der Peak Tram, einer Seilbahn, die die Kulis mit ihren Sänften vor beinahe hundert Jahren arbeitslos gemacht hatte, krochen den Berg hinauf. Drüben im Westen bewegte sich eine Flotte von Trawlern, gerade noch sichtbar in der Dämmerung, auf den Taifunschutzhafen in Aberdeen zu, wo sie festmachen würden, bis Alan sich ausgetobt hätte.
    Als das Boot sich dem Central District näherte, wurde klar, daß der Vergleich mit Manhattan nicht paßte. Die Straßen hier waren nicht im Schachbrettmuster angelegt; die überfüllte futuristische Stadt war gänzlich ohne Plan aus dem Boden gestampft worden. Es war, als sei
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