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Die letzten Städte der Erde

Die letzten Städte der Erde

Titel: Die letzten Städte der Erde
Autoren: C.J. Cherryh
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Familie, und deshalb wuchs er weniger zivilisiert auf.
    Er versuchte es. Er war sich seines Mangels an G eschmack schrecklich bewußt, seines Mangels an Unterscheidungsvermögen, den er nicht als Originalität entschuldigen konnte: Originalität war eine Eigenschaft älterer Geister und Erinnerungen. Sein Betragen war einfach unbeholfen, und er blieb überwiegend im Schatten des Jadepalastes, ertrug sein Leben und dachte, daß sein nächstes sicher besser werden würde.

    Aber der Jadepalast lag neben dem Onyxpalast, und es war nicht zu vermeiden, daß diese beiden Häuser sich anläßlich von Jahrestagen durcheinandermischten. Diese Zeiten waren eine Qual für Alain in seiner Kindheit, da zu ihnen sein naives und echtes Kindsein Außenseitern offenbart wurde; sie wurden eine Qual anderer Art in seinem vierzehnten Lebensjahr, als sich plötzlich gerade sein neu entstehendes Unterscheidungsvermögen auf ein bestimmtes Gesicht konzentrierte, eine bestimmte blasse Lieblichkeit aus dem Onyxhaus.
    »Nichts anderes war zu erwarten«, seufzte seine Mutter. Er hatte sie viele Male in Verlegenheit gebracht, und zaghaft kam er jetzt mit diesem Geständnis zu ihr, daß er in dieser Onyxprinzessin etwas gesehen hatte, was andere innerhalb ihrer eigenen Häuser erblickten; eine Dringlichkeit des Verlangens ergriff von ihm Besitz, die, wie andere behaupteten, nur für alte Bekanntschaften und alte Lieben aus früheren Leben galt. Er war neu, und dies war sein erstes Mal. »Ihr Name?« fragte seine Mutter.
    »Ermine«, flüsterte er, die Augen gesenkt, gerichtet auf die Muster des Teppichs, den seine Tante in einem lange zurückliegenden Leben selbst gewebt hatte. »Sie heißt Ermine.«
    »Junge«, sagte seine Mutter, »du bist nur ein Tropfen im Kanal
ihrer
Leben. Vergiß sie!«
    Er hörte aufrichtiges Mitgefühl aus der Stimme seiner Mutter heraus, und dergleichen war selten.
Du amüsierst mich
, war das freundlichste, was sie bislang zu ihm gesagt hatte, ein Kompliment, das die Erwartung zum Ausdruck brachte, er würde noch einmal den Reiz des Neuartigen erlangen. Jetzt trieb ihm ihr freundlicher Ratschlag Tränen in die Augen, aber er schüttelte den Kopf und blickte auf, sah ihr ins Gesicht, was er nur selten tat: sie war sehr alt und klug, und er spürte, wie sie ihn ständig mit der Erinnerung an vergangene Zeiten verglich.
    »Vergißt irgend jemand jemals?« fragte er.
»Junge, ich gebe dir einen guten Rat. Natürlich kann ich dich nicht aufhalten. Du wirst tausendmal geboren werden, und sie ebenfalls; und du wirst deine Jugend nie wettmachen können. Aber ein solches Verlangen kommt wieder zum Vorschein, wenn du nicht aufpaßt, in diesem Leben oder dem nächsten, und dann erzeugt es Elend. Schlafe mit vielen; such dir gute Freunde, die in dein nächstes Leben hineingeboren werden können; du kannst nicht wissen, ob du Mann oder Frau sein wirst, oder ob sie bleiben, was sie sind. Such dir viele Freunde, das rate ich dir, so daß es – gleichgültig, ob manche vor dir geboren werden und andere nach dir, welches Geschlecht sie haben oder was sie sein werden – immer
einige
Menschen gibt, die sich freuen, dich bei sich zu sehen. Auf diese Weise schafft man sich einen Platz für sich selbst. Ich tat es vor Äonen, bevor ich begann, mich an mein Leben zu erinnern. Aber ich vertraue völlig darauf, daß du dich sofort an deines erinnern wirst; so liegen die Dinge jetzt. Und wenn du die Möglichkeit hast, eine intelligente Wahl zu treffen, wie du es in diesen Tagen kannst, dann, Junge, freue dich über einen guten Rat. Achte darauf, daß du dich nicht in deinem allerersten Leben einer zu starken Zuneigung ergibst! Und mach dir andererseits auch keine Feinde! Denk an deinen Onkel Legran und an Pertito, die einander in jedem Leben, in das sie geboren werden, erneut umbringen, in welcher Gestalt sie auch zur Welt kommen. Erzeuge nie ein unumstößliches Muster! Sei klug. Ein zu früh entworfenes Muster könnte alle deine Leben zu Tragödien machen.«
    »Ich liebe sie«, sagte er mit der hilflosen Inbrunst seiner allerersten vierzehn Jahre.
    »Oh, mein Liebling«, sagte seine Mutter und schüttelte traurig den Kopf. Sie würde ihm gleich von einem ihrer Leben erzählen, wußte er, und er blickte wieder auf den Teppich, dazu verurteilt, es zu ertragen.
    Er sah Onyx Ermine in diesem Jahr kein weiteres Mal, auch nicht im nächsten und den beiden darauffolgenden. Seine Mutter handhabte die Angelegenheit sehr feinfühlig und machte ihm
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