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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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gut. Die andere kam mehr nach ihm und war bösartig obendrein. Schiwrin hatte sich in das dürre Gehäuse seines Körpers verschanzt. Was sollte er noch? Was wollte er noch? Es war aus.
    Draußen polterte und bollerte es an der Tür. Jetzt brachten sie schon wieder was zu essen. Er wollte nichts essen, er konnte nichts essen, er sollte immer trinken, dauernd waren sie hinter ihm her, er solle trinken. Dabei wollte er nichts anderes als auf dem Sofa liegen, nichts hören, nichts sagen müssen, er konnte doch nicht mehr reden, er konnte kein Deutsch mehr, nur noch Russisch. An manchen Tagen nur noch Jiddisch.
    Ein laut rufendes Etwas hatte sich genähert. Eine Stimme drang zu ihm, wie plötzlich Sonne in einen finsteren Brunnenschacht fiel.
    Dobri djen, Herr Schiwrin. Ich bin Schwester Nadjeschda. Aus Sibirien.
    Wos? ... Aaah, nakonjetz russkaja duscha.
    Endlich mal eine russische Seele!
    Da, sagte Nadjeschda. – tui vidisch rabotaju medizinskoj sjesestrj!
    Ja, wie du siehst, arbeite ich hier als Krankenschwester. A otkuda tuj?
    Und wo kommst du her?
    Is Peterburga.
    Oichee … Jetzt musste Herr Schiwrin nach langer, langer Zeit einmal lachen. Oijoijoi. Nadjeschda. Nadja. Sibirsk. Ein russisches Wort.
    Schwester Nadjeschda lachte auch, fing an zu husten und hielt sich die Faust vor den Mund. Ihre zarten Ohrringe mit einem grünen Stein und kostbaren russischen Ornamenten zitterten. Nadjeschda wog doppelt so viel wie Herr Schiwrin und war einen Kopf größer als er. Sie wurde auf einmal streng, überkreuzte die Arme und musterte ihn von oben bis unten.
    Wie geht, Herr Schiwrin?
    Oichee, Herr Schiwrin grinste in sich hinein. – Gutt, geht gutt.
    Geht NICHT gut, Herr Schiwrin. Sitzen immer allein! Haben Kopfschmerzen!
    Herr Schiwrin schüttelte den Kopf. Er hatte keine Kopfschmerzen.
    Aber Arzt hat gesagt, habe schwere Kopfschmerzen! Ich gebe Medikament!
    Nadjeschda duldete nicht, dass er keine Kopfschmerzen hatte. Herr Schiwrin hatte einen Tumor, das wusste hier jeder. Wieso hatte er keine Schmerzen? Das konnte gar nicht sein.
    Njet.
    Herr Schiwrin, wo ist Frau?
    Kommt nicht.
    Kommt nicht?
    Nadjeschda wurde zornig. – Kann nicht lasse Mann alleine!
    Oichee, lachte Herr Schiwrin. – Ist böse Frau.
    Naaain. Ich rufe an, Frau.
    Njet! … Keine Frau anrufen.
    Aber Nadjeschda duldete keinen Widerspruch.
    Als sie schon beinahe draußen war, rief Herr Schiwrin ihr nach: Wo hast du gelernt, sibirische Pflanze?
    In Tuberkulosekrankehaus. Von Gefängnis. In Gefängnis alle hatten Tuberkulose. Das schwere Arbeit, oichee.
    Und Herr Schiwrin lachte leise, nach langer, langer, langer Zeit.

Nach der Arbeit   betrat Lotta ihr Dachzimmer, knöpfte sich den Kittel auf und sah sich verwundert um. Dass sie so ein Zimmer bekommen hatte. Das hohe, bogenförmige Fenster, das über alle Dächer der Stadt blickte. Die Dächer von Paris! Nein, Paris war es nicht. Es waren die Dächer einer mitteldeutschen Stadt und zwar im Rhein-Main-Gebiet. Trotzdem sah es aus wie Paris. Das Fenster war eingelassen in ein schräges Dach, es war eine Gaube, Lotta war verliebt in das Gaubenfenster. Der Rest des Zimmers war ungewollt fünfeckig, mit unterschiedlich langen Wänden. Hineingewurstelt in ein Altersheimdach, vermutlich um Schornsteine herumgebaut, so mancher Hausmeister und manche Nachtschwester hatte hier vorübergehend eine Bleibe gefunden. Eine Kochecke gab es nicht, aber Lotta konnte zwei Kochplatten bekommen. Es gab ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle, einen Kühlschrank und einen Kleiderschrank.
    Wirklich sehr hübsch!, sagte sich Lotta. – Die fünf Ecken!
    Sie kramte einen weiteren zerknitterten Zettel aus der Schürze, glättete ihn und hängte ihn mit einem Reißbrettstift neben die Tür, zum Auswendiglernen:
    Arbeitsanweisung:
    Wäsche täglich (Schmutz und Rein)
    Frühstücks-, Mittagessens- und Kaffeetisch vorbereiten, verteilen und nach dem Essen das Geschirr wieder abräumen
    Spülbecken und Nachttische in den Zimmern täglich reinigen
    Wäsche für die Pflegewagen sortieren
    Alle vierzehn Tage Betten und Bettgestelle reinigen
    Alle vierzehn Tage Rollstühle säubern
    Einmal pro Woche Stationszimmer und Stationszimmerschränke reinigen
    Das war ja nicht so schwer zu kapieren. Das konnte sie machen und wenn sie was nicht wusste, notfalls mal jemanden fragen.
    Lotta öffnete ihre schwere Reisetasche und zerrte all ihre Habseligkeiten über die einfachen Dielenbretter, sie suchte nach ihrem alten, hellblauen Frotteepyjama, der so
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