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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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nicht mehr ganz dicht. Jeder wackelte und schniefte auf seine Weise vor sich hin und man musste sich fragen, ob das denn alles so seine Richtigkeit hatte.
    Dem Herrgott ist am Ende die Schöpfung ein wenig aus der Hand geglitten, dachte Lotta, als sie ihren Wagen schob. Sie hatte noch fünf Kännchen Kaffee zu verteilen, drei Schnabelbecher und sieben Stückchen Marmorkuchen.

Einen warmen Pullover   , ein Hemd, irgendein Hemd, Größe 50 oder so. Hier waren doch verdammt noch mal Hemden genug. Pflegehelferin Gianna wühlte emsig in der Kleiderkammer unter dem Dachjuchhee und suchte etwas für Herrn Wickert – Herr Wickert – ein Leben für die Henninger-Brauerei. Dem einen sein Tod ist dem andern sein Brot. In dem Fall sein Pullover. Gianna, nicht so groß, nicht so schlank, nicht so jung, schüttelte die grauen Löckchen, schniefte und wühlte weiter: Wo war denn hier mal was, hier hingen die Röcke, dort die Blusen. Wenn man ein wenig schüttelte, kam vielleicht noch ein wenig Leben heraus von dem Menschen, der sie zuletzt getragen hatte. Ein wenig Tosca, ein wenig Pfeifentabak, ein Hauch von Rosenduft, eine Spur von Irish Moos, irgendetwas, das aus dem Leben der Dahingegangenen erzählte, ein Shanty, ein Schneewalzer, ein Treffen am Silbersee.
    »Der Sommer, seiner Feste müd, hält seinen Kranz in welken Händen …« So stand es auf dem Kalender im Speisesaal. »… Nun löst sich sacht, der letzte Tanz, der Regen stürzt, es fliehn die Gäste …« Herbert Hesse oder so.
    Hier oben waren auch alle schon geflohen. Das Leben war aus den Kleidern geflohen. Die Franziskanerinnen, die das Haus früher betreut hatten. Gianna wollte auch fliehen. Aus dieser staubigen Kleiderkammer, mit all ihrem Geflüster, den allzu eng gehängten Geschichten, dem ineinander verwebten und verhäkelten ewigen Spinnengesang seiner Bewohner.
    Gianna hatte jetzt ungefähr, was sie brauchte, drei Hemden, einen blauen Trainingsanzug, zwei Pullover, dicke Socken für Wickerts dicke Füße.
    Wickert! Hatte sein Leben lang Bierfässer gerollt und von jedem Fass was abgetrunken. Jetzt stapfte er hier herum und hatte vorne und hinten nichts Anständiges mehr anzuziehen, aber immer noch Durst. Schnell jetzt. Schnell weg hier. Ihr Herz klopfte und stockte. Ihre Augen flackerten. Warum regte sie sich denn so auf? Sie regte sich auf, weil …
    Schschsch … machte es. Herzstillstand. Gianna bekam einen Herzstillstand.
    Madonna, sagte Gianna. – Was war das, was war das, ich habe nichts gesehen. Madonna.
    Und sie kniff die Augen ganz fest zu, aber da war es schon wieder. Ein Hauch, eine Einbildung, eine Sehstörung. Es blies, das war der Wind, der Wind, der durch den Dachboden fuhr. Der immer und jedes Mal an der gleichen Stelle an ihr vorüberschwebte. Der Wind schwebte. So war das in der Kleiderkammer. Gianna würde sich nie daran gewöhnen. – Madonna … Madonna … dio mio flüsterte Gianna vor sich hin, stürzte aus der Tür und knallte sie hinter sich zu. Sie wickelte die Pullover und Socken zu einem Knäuel zusammen und stürzte auf die Dachterrasse, suchte hektisch nach der Schachtel Marlboro und zündete sich eine Zigarette an. Mamma Mia. Schon wieder. Sie wurde verfolgt von seltsamen Ahnungen, von Wahrnehmungen, sie hatte etwas empfunden, das es gar nicht gab.
    Einbildung, sagte sie sich. Alles Einbildung. Aber was geschah alles in einem Haus, in dem so viele Menschen starben, Mamma Mia, es lag daran, dass die Schwestern und Pfleger die Fenster nicht öffneten, wenn ein Mensch davonging, da konnte die Seele nicht davonfliegen und verirrte sich im Haus, die arme Seele. Sie hatte es hundertmal gesagt.
    Gianna schimpfte, fluchte wie ein Bauer, ärgerte sich über ihre Raucherei, die ihr Gesicht so elend aussehen ließ, sie zertrampelte die Zigarette und bekreuzigte sich. – Muss ich bete, ganz viel bete. Und für alle, die nich bete, auch, oh dio mio.

Frau Wissmar?  
    Frau Wissmar war die Personalchefin von der Degussa gewesen, so hieß es. Lotta klopfte noch mal an. – Hallo?
    Frau Wissmar, 98 Jahre alt, lebte seit acht Jahren hier -seit sie ihr Haus angezündet hatte und nichts mehr übrig geblieben war als die Chippendalemöbel, ihre Kleider und ein Lodenmantel. Lotta hörte kein »Herein« und ging einfach los. Kännchen Milch mit Zucker. Marmorkuchen.
    Frau Wissmar sah nicht auf. Sie saß im Rollstuhl an ihrem Tisch und trug einen blau karierten Faltenrock, einen fein gehäkelten, blassgelben Pulli und die Frisur einer ewigen
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